die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1982
Text # 177
Autor Harold Pinter
Theater
Titel Other Places/Family Voices/Victoria Station/A Kind of Alaska
Ensemble/Spielort Cottesloe Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Judi Dench
Uraufführung
Sendeinfo 1982.10.15/WDR/SRG Basel 1982.10.16/SWF Kultur aktuell/RB/DLF/SR/ORF Wien Nachdruck: Darmstädter Echo

Unter dem Titel ‘Other Places’ (Andere Orte) stellt das Nationaltheater drei kurze Stücke von Harold Pinter vor. ‘Family Voices’ war ein Hörspiel, das Peter Hall Anfang des vorigen Jahres für das dritte Programm der BBC produzierte und wenig später als sogenannte Plattform-Vorstellung im Lyttelton Theatre auf die Bühne brachte. Die beiden anderen Stücke, ‘Victoria Station’ und ‘A Kind of Alaska’, werden als Uraufführungen präsentiert.

‘Family Voices’ (Familienstimmen) ist eine Art innerer Dialog in Briefform zwischen Mutter, Sohn und Vater, der zunächst so starke Erinnerungen weckt an Becketts ‘Spiel’, daß die Ähnlichkeiten nicht nur als zufällig gelten können. Hier die Stimmen von drei Personen, die, nebeneinander sitzend unendlich weit voneinander entfernt, tastend einander suchen. Hier wie da wird gemeinsam erlebte Vergangenheit beschworen. Doch während bei Beckett die den Rollenträgern gewährte Zeit bereits abgelaufen, Leben zur Maske des Todes geronnen ist, das Gewesene sich nur in ewig gleicher Wiederholung reproduzieren kann, ist bei Pinter zumindest für zwei der Figuren – Mutter und Sohn – der Ausgang noch offen.

Die Mutter wünscht, der Sohn kehre heim. Der Sohn beschreibt den Ort, an dem er sich aufhält, und die neuen Menschen, die ihn umgeben: “Ich habe mein zu Hause gefunden“. Doch da er weiß: “Alles, was mir geschah, wird für immer bei mir sein“, spricht er davon, er sei auf der Reise zurück. Was sie in Briefform einander sagen, kommt nicht an, weil die Briefe nie wirklich geschrieben oder nicht abgeschickt wurden. Die Sprecher der Stimmen von Mutter und Sohn sitzen während des Stückes fast reglos auf halb dunkler Bühne vor einem grell erleuchteten Schirm, vor dem die Figuren sich wie Schattenbilder abheben. Gegen Ende meldet sich auch der verstorbene Vater aus dem Dunkel zu Wort und erklärt, was er mitzuteilen hätte, müsse ungesagt bleiben, denn er sei leider “ganz tot“.

‘Victoria Station’ ist ein sehr kurzer, skurriler Sketch über Schwierigkeiten der Kommunikation (ein uraltes Pinter-Motiv), hier zwischen einem Taxifahrer und dem Mann in der Sprechfunkzentrale, dem während des irren Zwiegesprächs aufgeht, daß der Fahrer, den er zum nächsten Einsatz dirigieren wollte, vermutlich den Verstand verloren hat.

Das Dreipersonenstück ‘A Kind of Alaska’ schließt thematisch an die vorigen an, fällt aber sonst aus dem Rahmen des Programms. Pinter betritt hier offenbar neues Terrain. Es ist die Geschichte einer Kranken, die als Sechzehnjährige plötzlich erstarrte und in einen Tiefschlaf-ähnlichen Zustand versank, aus dem sie erst neunundzwanzig Jahre später mithilfe eines neuen Medikamentes erweckt werden kann. Das Stück wurde angeregt durch ein Buch von Oliver Sacks, die umfangreiche medizinische Beschreibung einer Epidemie mit dem Namen Encephalitis lethargica, die in den Jahren 1916-17 in Europa ausbrach und fast 5 Millionen Menschen erfaßte, wovon über ein Drittel starben.

Wir beobachten, wie die Patientin, inzwischen eine Frau mittleren Alters, deren geistige Entwicklung auf dem Niveau einer Sechzehnjährigen stehen blieb, langsam zum Leben zurückkehrt. Pinter läßt uns fragen, was in ihrem Inneren vorgegangen sein mag, während ihr Geist über Jahrzehnte dahin dämmerte, an einem unbekannten Ort, “einer Art Alaska”. Wird sie den Schock des Erwachens aus ihrem Dornröschenschlaf überstehen, die Kluft zur Welt der Lebendigen überwinden, sich selbst als Erwachsener anerkennen?

Mit Judi Dench in der Rolle der Frau mit der Seele eines großen Kindes wirkt das Stück wie eine erregende Expedition in ein bisher unerforschtes Reich zwischen Leben und Tod zum Triumph einer Wiedergeburt.

“Harold Pinter steht heute auf dem Gipfel seiner schriftstellerischen Begabung“, meinte der Kritiker des ‘Daily Telegraph’ nach der Premiere. “Er war nie weniger obskur als in diesem Stück und nie beredsamer in der Bezeichnung des fragilen Glücksgefühls, noch am Leben zu sein“. – “Dies ist keine Fallstudie“, hieß es in der Londoner ‘Times’,”sondern die imaginierte Reise eines beliebigen Patienten aus der grabesähnlichen Isolation der Krankheit zurück zur lebendigen Gesellschaft”. – “Ein Meisterwerk“, jubelte der Kritiker des ‘Guardian’. “Judi Denchs Darstellung wird in unvergeßlicher Erinnerung bleiben ... Das Stück ist die perfekte theatralische Metapher für das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das Pinter so fasziniert ... Nie zuvor hat mich ein Stück dieses Autors emotional so erschüttert; und dies ist zum großen Teil das Verdienst der unglaublichen Judi Dench”.

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