“Die meisten der ‘Gebildeten’ sind davon überzeugt, daß wir in einem dekadenten System leben”, sagt David Hare in einem Interview, “als Autor, meine ich, muß man dem auf den Grund gehen: über anderes zu schreiben, ist nach meiner Meinung bloße Spielerei“.
David Hares Stücke sind Versuche der Auseinandersetzung mit zentralen gesellschaftlichen Konflikten: dem Chauvinismus des Mannes gegenüber der Frau und der Korrumpierbarkeit der politischen Linken (in ‘Slag’), der demoralisierenden Wirkung eines verlorenen Wahlkampfes (in ‘The Great Exhibition’), Korruption in der Kommunalregierung (in ‘Brassneck’), unmoralische Praktiken in der Rechtsprechung (in seinem Fernsehspiel ‘Men Above Men’) sowie mit der Rolle von Pornographie und mit den Verbrechen im nordirischen Bürgerkrieg (in den mit einer Reihe anderer Autoren gemeinsam verfaßten Stücken ‘Lay-By’ und ‘England’s Ireland’).
Sein soeben im Comedy Theatre uraufgeführtes neues Bühnenstück ‘Knuckle’ (Knöchel) ist das erste seiner Werke, das in einem Theater des Londoner Westends herauskommt, wo man normalerweise nur Unterhaltungsstücke des leichten bis seichten Genres findet. ‘Knuckle’ ist der Versuch, eine harte Sache in weicher Verpackung an den richtigen Mann zu bringen. In der Form eines Fernseh- oder Filmkrimis Humphrey Bogartschen Schlages geschrieben, bietet ‘Knuckle’ fast alles, was das an harmlose theatralische Vergnügungen gewöhnte Westendbühnenpublikum erwartet, alles – bis auf die Harmlosigkeit, die keiner Fliege etwas zu leide tun will, am wenigsten den Salonbürgern im Zuschauerraum, von denen das kommerzielle Theater lebt.
‘Knuckle’ hält dem Gentleman-Kapitalismus in seiner Hochburg der Londoner City die Knöchel der nackten Faust unter die Nase. Aus der einigermaßen verwirrenden Kriminalstory entwickelt sich das, worauf es dem Autor zweifellos ankommt: die Demaskierung der Kapital-Verbrecher, deren unauffällige Seriosität die Skrupellosigkeit ihrer Geschäftemacherei nicht länger bemäntelt.
Der Sohn eines Handelsbankier ist nach zwölf Jahren nach Hause zurückgekehrt, um das mysteriöse Verschwinden seiner Schwester aufzuklären. Er stellt fest, daß sie ein Verhältnis mit einem Barbesitzer hatte, der sich zu Tode soff, nachdem er von Grundstücksspekulanten zum Verkauf eines Hauses getrieben worden war, in dem seine alte Mutter wohnte, die er entmündigen und in eine Irrenanstalt verbringen ließ, wo sie darüber erst den Verstand verlor. In der Erpressungsgeschichte hat auch ein früherer Geliebter der vermißten Schwester eine dubiose Rolle gespielt. Hinter dem ganzen aber steckt der Vater, jener honorige Bankier, der seine Tochter, so scheint es, durch seine unmoralischen Geschäfte in den Selbstmord trieb. Nachdem die Bösen erkannt und überführt worden sind, stellt sich überraschend heraus, daß die Verschollene lebt, der wie ein rächender Engel heimgekehrte Sohn als internationaler Waffenhändler selbst Dreck am Stecken hat und am Ende wegen seines Opportunismus von dem geliebten Barmädchen Jenny, der einzigen wirklich positiven Figur im Stück, mit bitterer Verachtung gestraft wird.
Die Botschaft, die sich zwischen den Zeilen und durch direkt ins Publikum gesprochene Kommentare mitteilt, ist deutlich genug. Mit den beinahe zitathaften Anleihen bei Kriminalfilmklischees wird Parodie angestrebt. Das Stück ist spannend, hat glänzend formulierte Dialoge, sinkt aber in manchen Passagen, in denen die Parodie der Klischees kaum noch erkennbar ist, aufs Niveau der parodierten Vorbilder ab.
Alles in allem ein interessantes, aufführenswertes neues Theaterstück, das man sich (in einer späteren Fassung?) nur noch etwas bissiger, bösartiger und zugleich, an der Oberfläche, noch glamouröser, verführerischer wünschen möchte.