die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 6
Autor Alan Burns & Charles Marowitz
Theater
Titel Palach
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie Alan Burns
Uraufführung
Sendeinfo 1970.11.12/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

Zitat: “Auch wir können uns für die Sendung Ihres Palach-Stückes und überhaupt für ein Palach-Stück in dieser Zeit nicht entschließen“. So oder ähnlich reagierten die deutschen Rundfunkanstalten, als ihnen ein bekannter österreichischer Hörspielautor im vergangenen Jahr einen “Nekrolog” auf Jan Palach anbot.

Der 21-jährige Philosophiestudent Jan Palach begab sich am 16. Januar 1969 zum Prager Wenzelsplatz, übergoß sich mit Benzin und verbrannte sich, um gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die unter sowjetrussischer Führung einmarschierten Truppen zu protestieren. Das Fanal machte Schlagzeilen. Es wurde zum Symbol des ohnmächtigen Widerstandes gegen die brutale Gewalt. Und dann vergessen. Wie der Akt selbst, dem Palachs Protest gegolten hatte; wie zuvor die Selbstverbrennungen vietnamesischer Mönche und deren Ursache.

Darf man Palach heute zum Helden eines Theaterstückes machen, ihn theatralisch verwursten, seinen Fall szenisch ausbeuten, sagen wir, als die ‘Jungfrau von Orleans’ unserer Zeit? Eines scheint sicher: daß eine Heldenverehrung alten Stils absurd, die szenische Darstellung des Vorgangs, nämlich die Selbstverbrennung eines Menschen, obszön und für die Sache, um die es dabei schließlich gehen sollte, fatal wäre. Was aber die Tabuisierung des Themas angeht, würde ich sagen: man darf nicht nur, sondern muß – wenn man kann.

Im Londoner Open Space Theatre, dem angesehensten Kellertheater der Stadt, fand soeben die Uraufführung eines Palach-Szenariums statt, für das Alan Burns und Charles Marowitz, der Regisseur und künstlerische Leiter des Ensembles, als Autoren verantwortlich zeichnen. Die Zitate, die aus dem Briefwechsel beider stammen und am Anfang der Vorstellung verlesen werden, machen deutlich, daß sich Marowitz und Burns der Problematik ihres Versuchs, ein Palach-Stück auf die Bühne zu bringen, in jeder Hinsicht bewußt waren. Was nach langer Vorbereitungszeit entstand, ist denn auch kein Theaterstück nach üblichem Muster, vielmehr eine szenische Collage, in der nicht eigentlich Palach, der tschechische Märtyrer, sondern wir selbst, die Zeitgenossen, seine Umwelt und Nachwelt, die Hauptrolle spielen: wir, die weiter leben und vergessen, was irgendwann, irgendwo in der Welt geschah, die sich blind gesehen und taub gehört haben an Sensationen, auf die die Sinne nicht mehr reagieren.

Das Publikum, das zur Aufführung ins Theater kommt, ist genötigt, sich zwischen kniehohen Stegen, die von der Mitte des Raumes zu kleinen Podien an allen vier Wänden führen, zum algemeinen Sit-in niederzulassen. Umgeben von tonlos flimmernden Fernsehgeräten und der Geräuschkulisse einer Rundfunkreportage, unter einem riesigen Zeitungshimmel hocken die Zuschauer auf hartem Boden; denn Stühle gibt es nicht. Dann erlöschen die Mattscheiben, der Radiolärm verstummt, und auf den verschiedenen Podien entwickeln sich, simultan, die ersten Szenen. Aus der größeren Gruppe lösen sich fünf Einzelgestalten: ein Mädchen, ein Junge – gewöhnliche Bürger, die so harmlos selbstbefangen in ihrer eigenen Scheinwelt aufgehen, daß sie der Name und das damit verbundene Ereignis so wenig betrifft wie die meisten von uns, deren Gehirne zur Sickergrube der Zivilisation verkommen sind. Ihr Ausdrucksvermögen ist auf die kindischen Kürzel der Werbespots reduziert, ihre Haltungen sind nur noch Posen und ihre Gefühle spießbürgerlich oder verkitscht.

In der Reaktion auf die immer wieder gestellte Frage: “Warum hat er das nur getan?“ zeigt sich die allgemeine Apathie gegenüber dem Ungeheuerlichen. Der Junge wächst im Verlauf des Stückes immer mehr in die Rolle des tschechischen Studenten; mit verzweifelter Anstrengung versucht er schließlich, in einer ohrenbetäubenden Kakophonie von Stimmen und Lauten sich verständlich zu machen – bis er aufgibt und darin versinkt: Er hat nichts bewirkt, nichts geändert, es war umsonst, wie der Tod jenes Palach, der sich mit Benzin übergoß und verbrannte.

Marowitz’ Inszenierung ist mehr die Idee eines Palach-Stückes als ihre Verwirklichung. Der Mangel an technischer Perfektion ist leider so erheblich, daß er die beabsichtigte Wirkung gefährdet. Der Entwurf jedoch, das Vorhaben selbst ist bewundernswert. Es ist der Versuch, die Ohnmacht der Gewaltlosen gegen die Macht der Gefühllosen zu vermitteln. Ein sehr ehrlicher Versuch, der wieder einmal bewies, wie unendlich schwierig es ist, komplizierte gesellschafts-psychologische Tatbestände mit zeitgemäßen, neuen Ausdrucksmitteln szenisch darzustellen, wenn man erkannt zu haben glaubt, daß die traditionellen Mittel dazu nicht mehr taugen.

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