“Der Abriß der Berliner Mauer war das Symbol für die Überwindung der Barrieren zwischen Ost- und West Europa“, heißt es im Prospekt des diesjährigen Edinburgh International Festival. “Wir grüßen die Länder Osteuropas, die trotz aller Schwierigkeiten in Vergangenheit und Gegenwart Brutstätten künstlerischer Kreativität geblieben sind”.
Das offizielle Programm des seit 44 Jahren veranstalteten schottischen Festivals hat kein eigentliches Thema, aber jedes Jahr werden ein paar thematische Schwerpunkte benannt, die, wie es scheint, in der Regel weniger geplant sind als durch Zufälle sich ergeben. Da das Programm eines so großen Festivals über mehrere Jahre im voraus erarbeitet werden muß, ist das Haupthema dieses Jahres ‘Östlich von Berlin’, das so flink den politischen Veränderungen in Osteuropa Rechnung zu tragen scheint, sicher nicht nur der Geistesgegenwart der Programmplaner, sondern auch einer Reihe von glücklichen Umständen zu verdanken.
Die Geschicklichkeit, mit der die Festivaldirektion auf den mit großer Geschwindigkeit dahin eilenden Zug der Zeitgeschichte aufgesprungen ist, hat nichts Ehrenrühriges; zumal sich nicht leugnen läßt, daß im offiziellen Programm des Festivals diesmal die Gäste aus Osteuropa wirklich eine dominierende Rolle spielen. Es ist immerhin gelungen, nicht nur die beiden bedeutendsten Opernensembles der Sowjetunion, die Kirow-Oper und die Bolschoi-Oper, sondern auch das Philharmonische Orchester aus Leningrad, zwei weltberühmte sowjetische Solisten, Igor Oistrach und Tatjana Nikolajewa, und das Moskauer Lemkom-Theater gleichzeitig nach Edinburg zu verpflichten. Die Gastspiele des Slowakischen Nationaltheaters, des tschechischen Philharmonieorchesters, je eines Theaters aus Belgrad und aus Rumänien, des Krakauer Theaters Cricot2 und des Tanztheaters Ekspresji aus Danzig als Vertreter Polens sind die konsequente Fortführung von Glasnost im künstlerischen Bereich – einer Form von Glasnost, versteht sich, die über das Vorstellungsvermögen des Initiators dieser Idee inzwischen weit hinausgeht.
Die Krise, in die die gar nicht soziale Marktwirtschaft und ihre monetaristischen Auswüchse die Künste in den meisten westeuropäischen Ländern, vor allem in Großbritannien, gestürzt haben, ist das furchtbare Resultat einer Entwicklung, die den Menschen den schäbigsten Verstand von Materialismus heimgegeigt hat und damit so ‘erfolgreich’ gewesen ist, daß nun auch die osteuropäischen Länder allesamt nach der kapitalistischen Heilsbotschaft drängen und dadurch die ihnen bislang vertrauten Krisen durch die ihnen nicht vertrauten, marktwirtschaftlich erzeugten Krisen zu ersetzen. Wie weit auch diese Angleichung an den Westen bereits gelungen ist, wird an den Symptomen der Krise deutlich: Kürzung oder Streichung öffentlicher Zuschüsse für die Künste, niedrigere Einnahmen der Theater, Abhängigkeit von privaten Sponsoren, Unterbezahlung der Masse des künstlerischen Personals im Gegensatz zu den Supergagen weniger Stars und so weiter und so fort.
Was die osteuropäischen Theater und Orchester in diesem Jahr in Edinburg vor allem bieten – Tschaikowski, Rimski-Korsakow, Dvořak, Janaček, Schostakowitsch und sehr viel Mussorgski bei den musikalischen Veranstaltungen; Marivaux, Ostrowski, Anouilh, Brecht und Jarry im Schauspiel – läßt vom künstlerischen Nachholbedarf, der sich in diesen Ländern zurzeit austobt, nur wenig erkennen. Doch daran sind die schottischen Gastgeber schuld, die diese Auswahl getroffen haben, nicht ihre Gäste, die zweifellos (wie der polnische Korrespondent der ‘Times’ es ausdrückte) allesamt nach Edinburg gekommen sind, um uns zu beweisen, daß die osteuropäischen Länder uns auch in künstlerischer Hinsicht noch etwas zu sagen und zu geben haben.