Virginia. Die überschlanke Gestalt mit den nachdenklichen, fast ängstlichen Augen, dem leicht gewellten, aus der Mitte gescheitelten Haar, die zarten, hageren Hände in den ausgebeutelten Taschen der braunen Strickjacke vergraben, über dem sandfarbenen knöchellangen Kleid aus leichtem Wollgewebe mit dem zur Schleife gebundenen Schalkragen; eine Figur wie aus Glas, zerbrechlich, spröde, verwundbar; ein literarisches Wesen, nicht von dieser Welt, unendlich weit entfernt und doch ganz nah, nach Leonards Worten “geschmeidig, nackt und stets an der Wahrheit“. Ein ätherisches Wesen, scheu und verhalten, bis auf die gelegentliche große Geste, die elegante Bewegung, den verzweifelten Ausbruch oder die flüchtigen Augenblicke eines übermütigen Gefühls von Glückseligkeit, bis sich der Schatten wieder darüber legt, Blick und Stimme verdunkelt und das leise Plätschern von Wasser hörbar wird, in dem sie versank.
“Ich träumte, ich beugte mich über den Rand des Bootes und fiele hinab. Ich versank im See, ich war tot und bin doch wieder am Leben – es war furchtbar, furchtbar, und wie vor dem Erwachen ertönen die Stimmen der Vögel und der Klang von Rädern und Schwatzen in seltsamer Harmonie, werden lauter und lauter, und der Schläfer fühlt sich an die Ufer des Lebens gezogen, die Sonne wird wärmer, die Stimmen werden lauter, etwas Ungeheures wird sich ereignen”.
Mit diesen Worten beginnt Edna O’Briens Stück ‘Virginia’, und mit denselben Worten endet es. Und was sich dazwischen ereignet, ist in der Tat etwas Außergewöhnliches: die flüchtige Auferstehung einer Gestalt der Literatur, Gestalt der Poesie aus der poetischen Imagination der Edna O’Brien. Es ist der Versuch, die Seele einer Toten zu beschwören, sie aus dem Geist ihrer Romane, Briefe und Tagebücher, den Schriften des Ehemannes Leonard Woolf und Quentin Bells Virginia-Woolfe-Biographie zum Leben zu erwecken; der Versuch, aus Erinnerungen an die Ehe der Woolfs, an Virginias außergewöhnliche Verbindung mit ihrer Freundin Vita Sackville-West, an die Künstler und Literaten des ‘Bloomsbury’-Kreises, der sich in ihrem Hause traf, in einem magischen Augenblick die Gestalt der Virginia Woolf erscheinen und dann wieder eintauchen zu lassen in die unerreichbar private Sphäre des Todes.
Edna O’Briens Stück, das im Sommer während des Stratford-Festivals im kanadischen Ontario uraufgeführt wurde und nun für zwölf Wochen im Londoner Haymarket Theatre vorgestellt wird, gibt keinen chronologischen Lebensbericht, sondern eine Folge poetischer Einblicke in die von Schüben des Irreseins bedrohte Seele Virginia Woolfs, die wie ein gefangener Vogel nach Freiheit und Leben zu dürsten scheint, doch die Flucht aus ihrer Welt der Bücher nur träumen kann, bis auf den eigenen Tod. “Das Thema ihrer Bücher war die kleine Welt von Menschen ihrer Art, eine kleine Klasse, eine sterbende Klasse“, sagt Virginia bitter, als sie sich vorstellt, was der Journalist, den sie soeben abgewiesen hat, nach dem Interview, das sie ihm verweigert, geschrieben haben könnte.
Edna O’Briens Stück verwischt die Grenze zwischen realer Figur und Imagination wie zwischen den Worten der historischen Virginia und der Figur, die durch Maggie Smith auf der Bühne erscheint und man kaum jemals besser, verhaltener, glaubhafter und eindrucksvoller gesehen hat. Der kanadische Regisseur Robin Phillips hat erreicht, daß eine der größten Schauspielerinnen des englischen Theaters die atemberaubende Technik, die ihr zu Gebote steht und allzu oft mit ihr durchzugehen scheint, einmal ganz in den Dienst einer Rolle zu stellen, die eben durch ihre Verhaltenheit, die subtilen Reaktionen, ihre plötzlichen Stimmungswechsel, ihre Verletzbarkeit und verinnerlichte Dynamik glaubhaft und bis zu einem gewissen Grade als Person verständlich wird.
Robin Phillips läßt die Szenen auf dekorationsloser Bühne vor durchscheinenden Gazewänden spielen. Durch behutsam geführte Gänge und Positionswechsel werden die emotionalen Spannungen zwischen den drei Personen des Stückes – Virginia, Leonard und Virginias Freundin Vita – sichtbar gemacht. “Der wirkliche Erfolg des Stückes ‘Virginia’”, schreibt Michael Billington im ‘Guardian’, “ist der, daß es mehr bringt als eine anspruchsvolle literarische Reminiszenz und uns eine wirkliche Frau vorstellt in all ihren rätselhaften Widersprüchen“. Die Wirklichkeit der Figur, möchte man ergänzend sagen, ist die ihrer Darstellung. Durch Maggie Smith wird die Aufführung zu einem unvergeßlichen Abend großer Schauspielkunst.