Mit schöner Regelmäßigkeit bringt das Royal Court Theatre seit 1967 in jeder Spielzeit ein bis zwei neue Stücke von David Storey, dem produktivsten englischen Bühnenautor der Sechziger- und Siebzigerjahre. Daß David Storey, wie mir scheint, als Dramatiker vor allem im Ausland noch immer unterschätzt wird, liegt einerseits am gewissermaßen untheatralischen, unprätentiösen Stil, der für die meisten seiner Stücke typisch ist, wie auch an der kongenialen Zusammenarbeit mit dem Regisseur Lindsay Anderson, der zum Erfolg der Stücke in England nicht unwesentlich beitrug. Anderson setzte mit seinen gescheiten, rhythmisch-musikalisch virtuos gearbeiteten Inszenierungen jedoch Maßstäbe, die anderswo kaum je erreicht wurden. David Storeys ‘Life Class’ ist das achte Stück des Autors, das innerhalb von knapp sieben Jahren am Royal Court Theatre uraufgeführt wurde, zugleich die sechste Inszenierung eines Storey-Stückes durch Lindsay Anderson.
Das Stück mit dem doppeldeutigen Titel (Aktstudienklasse/Lebensschule) zeigt einen Tag in einer Klasse für Modellzeichnen. In der Kunstschule einer englischen Provinzstadt versucht Allot eine ungebärdige Schar mehr oder weniger untalentierter Studenten über Möglichkeiten und Grenzen des klassischen Begriffs von Bildender Kunst zu belehren. Während er sie offiziell, nach althergebrachtem Muster, am lebenden Modell arbeiten läßt, verraten seine ironisch-kritischen Kommentare zu den zeichnerischen Bemühungen seiner Schüler, daß er ihre Arbeit letztlich für sinnlos hält. Statt in gewöhnlicher Weise zu unterrichten, provoziert er Reaktionen und Vorgänge in der Klasse, die zu einer Art permanenten Happening führen.
Oberflächlich gesehen, lehrt Allot, woran es selbst nicht mehr glaubt, daß nämlich zeichnerische Studien am Objekt noch zu künstlerischen Ergebnissen führen. Er bedient sich der konventionellen Lehrform zu eigenen Zwecken, zur Organisation von realen Geschehnissen im Verhältnis der Schüler zueinander, zu ihrem nackten Modell und ihrem Lehrer. Er läßt sie unmerklich nach seiner Pfeife tanzen und verwirklicht auf diese Weise einen Begriff von Kunst, der sich mit der nachbildnerischen Gestaltung nicht zufrieden gibt, sondern das Leben selbst, die Menschen, als Mittel und Material der Kunst betrachtet.
Man erinnert sich, daß David Storey Malerei studierte, bevor er zu schreiben begann. ‘Life Class’ gehört zu den Stücken, die statt einer gewöhnlichen Fabel einen Arbeitsverlauf, einen schematisierten Vorgang sozusagen als reine Handlung liefern. Storey geht in diesem Fall jedoch insofern über die Form des ‘work-play’ hinaus, als er an der Zentralfigur des Stückes eine innere Entwicklung zeigt, welche dem Lehrer die schöpferische Basis, nämlich die manipulative Macht über seine Schüler, entzieht, ihn dabei aber seiner kreativen Aufgabe erst eigentlich bewußt macht und seine Haltung bestätigt.
In den Dialogen geht es, direkt oder indirekt, um das Verhältnis von Kunst und Leben, die Rolle des Künstlers in der modernen Gesellschaft sowie um die Frage, ob Kunst heute überhaupt noch einen Sinn habe. Das Stück lebt vom Reichtum glaubhafter Charaktere und beobachteter Details und beeindruckt in der meisterlichen Inszenierung von Lindsay Anderson wieder einmal durch unprätentiöse Schönheit.
Alan Bates spielt die Rolle des ungewöhnlichen Lehrers mit sensibler Intelligenz, still und überlegen; ein erstaunlicher, überaus sympathischer Charakter; ein Mann, der Fragen stellt und nach Antworten sucht, sie nicht bereits vorfixiert an andere austeilt. Eine Figur, die Größe hat, auch gerade, wo sie am Unverständnis der anderen, ihrer geistigen Enge, scheitert.
‘Life Class’ ist, wenn ich das richtig sehe, unter David Storeys Werken eine Art Schlüsselstück, denn sein Verhältnis zur Kunst, zum Schreiben, ist dem seines Helden Allot insofern nicht unähnlich, als er alle Erfahrungen und Erlebnisse (und seine Stücke stecken voller autobiographischer Momente) so aufbereitet, daß sie zu einem Werk sich fügen, welches vor allem durch seine Wahrhaftigkeit überzeugt und darum mit der Realität, der es im besten Sinne des Wortes abgeschrieben ist, sich messen kann.