die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 136
Autor John Osborne
Theater
Titel Inadmissable Evidence
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie John Osborne
Hauptdarsteller Nicol Williamson
Neuinszenierung
Sendeinfo 1978.09.14/SWF Kultur aktuell/ORF Wien

John Osborne wähnt sich verkannt: von den Kritikern, die an den späten Werken des weiland zornigen, heute nurmehr blasiert arroganten Mannes wenig Vergnügen fanden, obzwar der Autor sich selbst, wie er bei jeder Gelegenheit wissen läßt, für einen der Großen, wenn nicht gar den Größten hält, den Ibsen oder Tschechow unserer Zeit. Sein 1964 uraufgeführtes Stück ‘Inadmissable Evidence’ (Unzulässiges Beweismaterial) nannte er in einem Interview des BBC-Fernsehens vor einigen Tagen bescheiden ein klassisches Werk und Nicol Williamson, den Hauptdarsteller der Neuinszenierung, schlicht ein Genie. Im Programmheft zur Aufführung des Royal Court Theatre finden wir den Abdruck eines Interviews mit dem Schauspieler, der seinerseits das Kompliment mit denselben Worten erwidert: “Ich halte Osborne für ein Genie”. Darunter ein Foto des genialen Zweigespanns von den Proben zur Wiederaufnahme des klassischen Werkes, diesmal unter des Autors eigener Regie

Die lange Liste von Zitaten aus früheren Kritiken, die den Eindruck geben möchte, als sei über Osbornes Stücke zu allen Zeiten nur Schlechtes gesagt und geschrieben worden, veranlaßte den Kollegen der Londoner Zeitung ‘Evening Standard’ zu einer Gegendarstellung. Die Kritiker, meinte er, hätten Osbornes Karriere stets mit fast schwelgerischem Lob begleitet und ihn nur selten getadelt. Der gute Mann leide an Verfolgungswahn: “Er ist wie die zaudernde Jungfrau, die nur noch den Schmerz erinnert, doch nichts von der Ekstase der vergangenen Nacht”.

Wie man auch sonst über den eitelsten aller englischen Stückeschreiber denken mag, die erste Londoner Neuinszenierung des Stückes ‘Inadmissable Evidence’ ist das beste, das ich je von Osborne gesehen habe. Und Nicol Williamson in der Rolle des Rechtsanwalts William Maitland läßt es trotz seiner dramaturgischen Schwächen als wichtiges Werk des modernen Theaters erscheinen.

Es ist die Geschichte eines gescheiten, doch charakterschwachen Mannes, der sich durch seinen maßlosen Egoismus selbst zugrunderichtet; der Zusammenbruch einer zerrissenen Persönlichkeit; Partitur für einen virtuosen Schauspieler, der drei volle Stunden lang redet und redet und dabei erbarmungslos tausend Facetten seines schäbigen Wesens bespiegelt. Und während wir beobachten, wie seine Klienten, seine Angestellten, seine Familie und schließlich selbst die Geliebte, die ihn mehr als alle anderen zu verstehen scheint, sich von ihm abwenden, gewinnt die Rolle durch die Unausweichlichkeit eines Schicksals tragisches Format.

Nicol Williamson, der sie bereits in der Uraufführung des Stückes vor vierzehn Jahren spielte und damit schon einmal triumphale Erfolge feierte, hat inzwischen das wirkliche Alter des Mannes, den er darstellt, erreicht und durch künstlerische Reife und Perfektion seiner atemberaubenden Technik dem nuancenreichen Charakter offenbar noch manches hinzugewonnen. Es ist eine gewaltige, höchst seltene, bewundernswerte schauspielerische Leistung.

Williamson meistert die langen, immer wieder abgebrochenen, durch gedankliche Einschübe, Verzweigungen, selbstkritisch ironisierende Kommentare unterbrochenen Worttiraden mit unbeschreiblicher Leichtigkeit und hält, indem er den labyrinthischen Windungen der Figur folgt und jeden ihrer Winkelzüge bis in die impulsiv körperhaften, vorsprachlichen Reaktionen des vom Bewußtsein der eigenen Erbärmlichkeit durchdrungenen Charakters sichtbar macht, die Konzentration der Zuschauer fast bis zum bitteren Ende der kläglichen Gestalt, die im zweiten Akt bereits so transparent und in ihren Verhaltensweisen vorausberechenbar scheint, daß sie die Möglichkeit zur darstellerischen Steigerung, einer Erweiterung der im ersten Teil minutiös herausgeleuchteten Details kaum noch zuläßt.

Die vom Autor geschmähten Londoner Kritiker reagierten diesmal jedenfalls einmütig mit großem Lob der hervorragenden schauspielerischen Leistung sowie des Stückes, das sie ermöglichte.

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