die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 48
Autor Tom McIntyre/Malcolm Griffith u.a.
Theater
Titel Eye Winker, Tom Tinker & Point 101
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs & Portable Theatre Company im Oval House/London
Inszenierung/Regie Malcolm Griffith
Uraufführung
Sendeinfo 1972.10.28/Darmstädter Echo

‘Eye Winker, Tom Tinker’ von Tom McIntyre, uraufgeführt im Theatre Upstairs, beschreibt den Versuch eines nordirischen Patrioten, eine revolutionäre Bewegung zu organisieren. Shooks, der einige Jahre im Ausland verbracht hat, ist heimgekehrt, um sich an die Spitze der Bewegung zustellen, die für die Befreiung des Landes von politischer Herrschaft und die Rückkehr zur Republik kämpfen will. Tatkraft, Temperament und Skrupellosigkeit im Gebrauch von Mitteln, die der Sache dienen, scheinen Shooks als den idealen Führer auszuweisen. Die Genossen machen ihn zum provisorischen ‘Diktator’ der Bewegung, dessen Befehlen sie folgen wollen. Doch der listenreiche Organisator versagt in dem Augenblick, da er die Befehle zum Einsatz geben soll, weil er außerstande ist, die nötigen Entscheidungen zu treffen. Immer mehr kostbare Zeit verstreicht, die Genossen streiten sich, Unsicherheit breitet sich aus. Das von Shooks proklamierte Jahr der Aktion vergeht, ohne daß etwas geschieht. Als die Geduld der Genossen am Ende ist, schreiten sie ohne ihn zur Tat; Shooks bleibt auf der Strecke.

McIntyres Stück, dessen Held einem realen Vorbild nachgezeichnet wurde, ist spannend geschrieben in konservativ naturalistischem Stil. Es gibt einen kleinen Einblick in die Arbeit einer illegalen Organisation, das Spiel der Intrigen um Macht, bleibt aber letztlich unbefriedigend, weil es das Problem so sehr personalisiert, daß es privaten und zufälligen Charakter erhält und nichts Wesentliches mehr über die politischen Kämpfe in Nordirland mitteilt.

‘Point 101’, eine Szenenfolge von sieben Autoren, aufgeführt von der Portable Theatre Company im Oval House, basiert auf einem Motiv von George Orwells Roman ‘1984’. In Raum 101 steht der gefolterte Winston vor dem Zusammenbruch: ‘Point 101’ ist die Krise, die über totale Vernichtung oder einen neuen Anfang entscheidet. Das Motiv verbindet acht Szenen, die inhaltlich nur so viel gemeinsam haben, als sie Personen zeigen, die in die Grenzsituation getrieben werden, vor der es kein Entrinnen gibt, des Untergangs oder Übergangs in einen qualitativ neuen Zustand. Es sind acht verschiedene Versuche, den entscheidenden Krisenpunkt 101 szenisch darzustellen, und zwar an den Beispielen Vietnam, Polizeiterror, Ausbeutung der Frau, autoritäre Erziehung, Ulrike Meinhof als deutscher Stadtguerilla und einem utopischen Ausblick auf eine nach-revolutionäre Kultur als nostalgische Reminiszenz aus dem Jenseits.

Seit einem halben Jahr arbeitet Portable Theatre mit einem festen Ensemble unter der Leitung von Malccolm Griffith, einem der bekanntesten Regisseure des Londoner Undergrounds. Die Gruppe experimentiert, probiert neue Arbeitsmethoden aus und hofft auf neue Resultate, wobei sie sich vor möglichen Irrwegen und Mißerfolgen nicht scheut. Man will nicht altes Textmaterial, das keinen Bezug mehr hat zur Gegenwart, szenisch bloß wiederkäuen und stellt darum eigene Stücke her zu Themen, die als heiße Eisen gelten und darum selten einer genaueren Untersuchung ausgesetzt werden, so die Themen: Moral als Lüge am Beispiel Pornographie, Demokratie und Unmenschlichkeit am Beispiel Nordirland – und nun Grenzsituationen zwischen Vernichtung und Freiheit an Einzelbeispielen, die einen gesellschaftlichen Zustand beleuchten. Die Ausdauer, mit der die Portable Theatre Company gerade die Möglichkeit testet, Stücktexte von einem Autorenkollektiv schreiben zu lassen, scheint mir bezeichnend für die Gruppe, die offenbar nicht nur durch gesellschaftskritische Dokumentation aufklären, sondern auch den Arbeitsprozeß zur Herstellung einer theatralischen Inszenierung demokratisieren will.

Die in ‘Point 101’ zusammengefaßten Szenen sind hier freilich denkbar heterogen. Die Rolle der geplagten, von allen Familienmitgliedern ausgenutzten Mutter und die des durch falsche Erziehung gequälten Kindes lassen sich mit Folterszenen bei Polizeiverhören, Vergewaltigung und Mord und einer prophetischen Schau auf eine Gesellschaft, die statt zu töten nur noch spielt und liebt und das Leben genießt, nur dann auf eine Ebene stellen, wenn man sie als verschiedene Aspekte eines allgemeinen Zustandes, der Situation vor der notwendigen Revolution der Gesellschaft, auch wirklich glaubhaft darstellen kann.

In diesem Fall hat man die Autoren gebeten, unabhängig voneinander und nach eigenen Rezepten für jeweils einen Gang zu sorgen zu einem Menü, das als Ganzes nicht recht schmecken will. Einigen Stücken fehlt einfach die Würze. Das Stück mit dem Titel ‘Ulrike Meinhof’ zum Beispiel von Malcolm Griffith zeigt ein schlankes, großgewachsenes Mädchen bei einem Verhör, stumm in Gegenwart der Kriminalen, beredt mit anderen in den rückblendenartig eingefügten Erinnerungen an Gespräche vor der Verhaftung. Die der Darstellerin in den Mund gelegten Zitate aus Schriften Ulrike Meinhofs bezeugen die Lauterkeit ihres Charakters, ihr Mitgefühl für die Unterdrückten und Ausgebeuteten; sie erklären den verzweifelten Versuch, mehr zu tun als bloß jammernd mitanzuschauen, wie überall Unrecht geschieht und geduldet wird. Von dem moralischen Konflikt, in den ein solcher Charakter unausweichlich getrieben wird, sobald er zum bewaffneten Kampf sich entschließt (zumal in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, die für den revolutionären Umsturz noch nicht reif ist) – von diesem Konflikt, der sich heute zweifellos in anderem Lichte zeigt als in Sartres ‘Schmutzigen Händen’ und der darum einer kritischen Analyse wert wäre, wird uns in diesem Stück nichts mitgeteilt.

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