die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 123
Theater/ Kulturpolitik
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/Riverside Studios/London
Inszenierung/Regie William Gaskill/ Dorothy Heathcote
Sendeinfo 1978.03.21/SWF Kultur aktuell/DLF

Über zweihundert Theaterregisseure und Pädagogen trafen sich am letzten Wochenende auf einer Konferenz zum Thema ‘Theater und Erziehung’, um die verschiedenen Arbeitsprozesse – die Arbeit des Regisseurs mit Schauspielern und die des Lehrers mit Kindern im Bereich des sogenannten ‘Educational Drama’ – zu vergleichen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen als Voraussetzung für eine engere Kooperation zwischen Theater und Schule. Es war die erste Konferenz dieser Art in Großbritannien nach einem ähnlichen Treffen vor genau dreißig Jahren, bei dem man zu dem Ergebnis kam, daß Theater und pädagogisches Drama – gegen den Anschein, daß es sich um ähnliche Vorgänge handele – praktisch nichts miteinander zu tun hätten. Dieser Ansicht (die der in Deutschlands pädagogischer Provinz noch immer vorherrschenden Meinung entspricht, daß der Unterschied zwischen Theater und Laienspiel viel größer sei als das, was sie verbinde) schien revisionsbedürftig. Im Mittelpunkt der Tagung stand eine Reihe von praktischen Demonstrationen mit dem Regisseur William Gaskill und professionellen Schauspielern sowie zwei Gruppen von Kindern im Alter von 11-12 und 14-15 Jahren unter der Leitung der Schuldrama-Experten Dorothy Heathcote und Gavin Bolton.

Unter dem Begriff ‘Educational Drama’ versteht man in England die Improvisation von Szenen, die von einer Gruppe von Kindern unter Führung eines Lehrers frei entwickelt werden, wobei sich präsentable Aufführungen ergeben können, aber nicht einziger Zweck der Übung sind. Der Lehrer ist bemüht, die kreativen Impulse der Kinder zu wecken, ihre Imagination, ihre Neugier und ihren natürlichen Drang nach primärer Erfahrung, indem er sie ermutigt, szenische Situationen zu erfinden und dabei sich selbst als soziales Wesen zu entdecken, als ein Ich, das mit anderen lebt und in ständiger Inter-Action auf andere bezogen ist.

Entscheidend für die Entfaltung der Phantasie und den erwünschten Lernvorgang ist dabei das Bewußtsein des ‘Als-ob’. Die Kinder werden veranlaßt, Spielsituation und Rollen ganz ernst zu nehmen und die von ihnen erfundenen Figuren – Projektionen ihrer persönlichen Erfahrung – und deren Verhältnis zur Umwelt genau zu studieren. Der Lehrer muß die Vorgänge überwachen und jeden Versuch der Kinder, Uneigenes zu simulieren, unterbinden. Sie dürfen erfinden, was sie wollen, wenn sie nur einer gewissen Logik folgen: alles ist möglich, aber jedes Wort, jede kleine Handlung enthält Implikationen. Das Als-ob des Spiels lehrt die Möglichkeit der freien Entwicklung, die Idee der Veränderbarkeit im Rahmen akzeptierter Voraussetzungen.

Die an der Konferenz in den Riverside Studios teilnehmenden Lehrer waren gekommen, um aus der Demonstration der Arbeit des Regisseurs mit Schauspielern zu lernen. Die anwesenden Regisseure hatten Gelegenheit, die Arbeit der Schuldrama-Experten zu beobachten und das Lehrer-Schüler-Verhältnis mit dem Produktionsprozeß im Theater zu vergleichen.

Besonders aufschlußreich waren dabei die von Dorothy Heathcote geleiteten Arbeitsgruppen. Mrs Heathcote ist eine stämmig gebaute, resolut wirkende Mittfünfzigerin, deren matronenhafte Erscheinung wenig verrät von der schier unerschöpflichen Phantasie, der außerordentlichen Flexibilität, dem pädagogischen Instinkt und der intellektuellen Dynamik dieser genialen Lehrerpersönlichkeit. Ihre pädagogischen Ziele liegen nach ihren eigenen Worten in der Entwicklung der kreativen Talente, der Reflexion auf das ‘wie etwas getan wird’ und der Motivation für den Lernprozeß im Hinblick auf Humanisierung der Schule und, darüber hinaus, Möglichkeiten der Humanisierung der Gesellschaft.

Im ‘Educational Drama’ ist der Lehrer Initiator, Regisseur, Autor und Ratgeber in einem Erfahrungsprozeß, der den Schülern zur Erkenntnis ihrer Welt verhilft. Der Lehrer benutzt die Autorität seiner Persönlichkeit zum Aufbau produktiver Spannungen im Lehrer-Schüler-Verhältnis, zur Stärkung der Konzentration, zur Entwicklung von Selbstdisziplin und zur Durchsetzung der für die weitere Entfaltung der kreativen und künstlerischen Impulse unentbehrlichen Formalisierung des Spiels. Um zu vermeiden, daß die autoritären Elemente die Phantasie und die Spiellust der Kinder blockieren, muß er ihnen den Charakter und die Tendenzen der Manipulation erklären.

Die eindrucksvollen Demonstrationen der Technik dieses komplizierten pädagogischen Vorgangs dürfte bei den meisten der anwesenden Lehrer und Künstler selbst Lernprozesse ausgelöst haben, die für ihre Arbeit in den Schulen oder im Theater weitreichende Folgen haben könnten.

Als man Mrs Heathcote mit einer Gruppe von Schauspielern konfrontierte, wurde allerdings ebenso eindrucksvoll klar, wo die wesentlichen Unterschiede zwischen Theater und Schule liegen. Wennzwar der Theaterregisseur die pädagogische Technik der vorgeführten nicht-autoritären Manipulation studieren sollte, weil sie auch für seine Arbeit mit Schauspielern von Nutzen sein kann, sollten alle Beteiligten wissen, daß das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler im Bereich des pädagogischen Dramas nicht etwa dem Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspielern, sondern höchstens dem Verhältnis zwischen Theater und Publikum entspricht. Theater und Erziehung sind in diesem Sinne verschiedene Weisen der Vermittlung von Erfahrungen, die die Welt als Spielraum durchschaubar machen.

Nach Oben