die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 144
Autor William Shakespeare
Theater
Titel Richard III
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Christopher Morahan/Bb. Ralph Koltai
Hauptdarsteller John Wood/Anna Carteret
Neuinszenierung
Sendeinfo 1979.10.09/SWF Kultur aktuell/RB 1979.09.10/ORF Wien 1979.09.11/WDR/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Was erwarten wir von einer Neuinszenierung des dritten Richard? Nun, freilich, zunächst die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines blutrünstigen Monsters, mehr Teufel als Mensch, das sich für seine Mißgestalt am Schicksal zu rächen versucht und also beschließt, ein Bösewicht zu werden und jeden zu beseitigen, der seinen Weg zum königlichen Thron verstellen könnte.

Kaum einer der großen Schauspielvirtuosen hat der Versuchung widerstanden, die Titelrolle von Shakespeares ‘Richard III’ zum Testfall der Beherrschung aller darstellerischen Mittel zu machen; ein langes Register berühmter Namen. Und kaum einer größer als der des Mannes, der als Richard Weltruhm erlangte: Laurence Olivier, erster Intendant des National Theatre, nach dem die größte und schönste der drei Bühnen des neuen Nationaltheatergebäudes benannt ist, auf der das alte Werk mit John Wood in der Titelrolle in diesen Tagen zum ersten Mal gespielt wird.

Ralph Koltai hat für die Arenabühne des Olivier Theatre ein eindrucksvolles abstraktes Bühnenbild gebaut, das aus einer riesigen Schräge besteht, die von zwei gewaltigen beweglichen Wänden begrenzt und je nach dem Spielort gegliedert werden kann. Die Veränderungen der Szenerie sind oft so minimal, daß sie selbst beim Wechsel von der Straße zum Zimmer des Palastes oder von dort zur Zelle im Tower kaum wahrgenommen werden. Auch die Möglichkeit, durch Lichtregie die Atmosphäre des jeweiligen Spielorts genau zu bezeichnen, wird erstaunlicherweise kaum genutzt.

Christopher Morahans Inszenierung konzentriert sich so sehr auf die Titelgestalt, daß alle übrigen zu bloßen, oft beliebig austauschbaren Randfiguren werden, die – mit Ausnahme der vorzüglichen Anna Carteret in der Rolle der Königin Elisabeth – als Personen kaum noch interessieren. Die Aufführung beginnt vielversprechend mit dem riesigen Schatten einer monströsen Gestalt, die aus dem Hintergrund zur Vorbühne stürmt, einem Schatten, der in der Tat viel bedrohlicher wirkt als die schlanke, fast elegante Figur des hinkenden Mannes, zu dem er gehört.

John Wood, berühmter Protagonist in Tom Stoppards ‘Travestien’, bringt nahezu alles, was ein wirklicher Virtuose seines Faches nur bieten kann. Seine Spielbessenheit, die schier hemmungslose Lust an der Selbstdarstellung, seltene Intelligenz und eine einfach bewundernswerte körperliche und stimmliche Agilität haben ihn zu einem der ersten Schauspielerstars seiner Altersgruppe gemacht. Wood ist durch und durch Komödiant, der seine nervösen Energien mit rückhaltlosem Einsatz ausspielt. Travestie, die Neigung zur spöttischen Persiflage des Erhabenen, ist ihm, so scheint es, zur zweiten Natur geworden. So wenig ernst er sich selbst und seine Rolle nimmt, die er stets mit großer Bravura, doch herzlich wenig echtem Gefühl für den Menschen zur Schau stellt, so wenig ernst nimmt dieser Richard sich selbst und die anderen. Er mordet spielerisch, kalt und ohne Gewissen, und wenn ihn gegen Ende des Stückes nachts vor der entscheidenden Schlacht die Geister der Ermordeten erscheinen und ihn das große Fürchten lehren sollen, so teilt sich auch hier nichts mit von wirklicher Todesangst und Richards geflüsterter Dialog mit sich selbst “Oh feig Gewissen, wie du mich bedrängst” hört sich mehr an wie kühles Räsonieren statt wie Verzweiflung und Gewissensnot vor dem letzten Akt seines schauderhaften Lebens.

Was erwarten wir von einer Neuinszenierung des dritten Richard (wie überhaupt von der Aufführung klassischer Schauerdramen solcher Art)? Dazu eine halbe persönliche Antwort: jedenfalls mehr als die bravouröse Präsentation der Rolle eines Theaterbösewichts, der mit beispielloser Hektik über die Bühne hastet und seine Worttiraden mit derart atemberaubendem Tempo ins Publikum schleudert, daß einem Sehen und Hören vergeht und man vom Sinn der Worte kaum noch etwas versteht. John Woods Darstellung des Richard fehlt fast jede Spur von Glaubhaftigkeit, ohne die es denn auch bei klassischen Werken nicht geht. Christopher Morahans Inszenierung ist selbst ein klassisches Beispiel dessen, was ich als Totengräber-Theater verstehe: ein Startheater, bei dem der Zweck der kostenreichen Übung nicht mehr erkennbar ist; ein Versuch mit untauglichen Mitteln am durchaus noch tauglichen Objekt; eine Aufführung, die das Theater in Verruf bringt, weil sie am Sinn der Kunstgattung als solcher zweifeln läßt.

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