Die Modernisierung klassischer Werke ist in Mode gekommen. Was Brecht zu seiner Zeit von den Theatern erwartete, die Ausbeutung des ‘Materialwerts’ der klassischen Stücke, ist gängige Praxis geworden. Von der berühmten ‘Einschüchterung durch die Klassizität’ bedeutender Werke kann keine Rede mehr sein. Während in Deutschland die Regisseure die durch allzu großen Respekt bedeutungslos gewordenen Klassiker gewaltsam gegen den Strich bürsten, kommt es in England, wo viele Theater noch immer auf kommerziell rentabler Basis arbeiten, vor allem auf die Erhöhung des Marktwerts an.
Mit seinen radikalen Shakespeare-Experimenten hat sich der amerikanische Immigrant Charles Marowitz in London zwar um das moderne Theater verdient gemacht, aber nichts daran verdient. Anders die Produzenten der Musical-Shows des Londoner Westends, die aus den publikumsattraktiven Titeln klassischer Evergreens Kapital schlagen.
Nach dem großen Erfolg von ‘Rock Othello’ und ‘Black Macbeth’ folgt nun, aufwändig angekündigt, ‘Carmen’ als Rock Musical im Londoner Roundhouse. Herb Hendler, der Autor, erklärt, daß die verfilmte ‘Carmen Jones’ als Produkt der Fünfzigerjahre heute musikalisch und textlich verstaubt wirke. Ihn habe die Idee einer zeitgemäßeren ‘Carmen’ gereizt.
Hendlers Carmen ist ein amerikanisches College-Girl, das typisch sein soll für die Teilnehmer der berüchtigten Campus-Demonstrationen; sie ist “nicht radikal”, wie es heißt, “aber auf der Suche nach Veränderung und nach Wahrheit“. Don José ist zum Polizisten transformiert, der gegen die Demonstranten vorzugehen hat und sich dabei in Carmen verliebt. Aus Escamillo ist der Schlagersänger Ed, ein Superstar, geworden.
Hendler beruft sich auf Bizets Textvorlage, den ‘Carmen’-Roman von Prosper Merimée, wo José “noch nicht der schwache Charakter der Bizet’schen Oper” gewesen sei. Und da Polizisten, wie jeder weiß, einen starken Charakter haben, weibliche Campus-Demonstranten dagegen emotional unzuverlässig und anfällig sind für den Charme von Schlagersängern, glaubte der Autor offenbar schon mit der Rollenverteilung das zur Charakterisierung der handelnden Personen Nötige getan zu haben.
Zur Vorführung der 24 Liedszenen der neuen Rockoper, in der es keine gesprochenen Dialoge gibt, bedarf es freilich auch keiner besonderen Charakterisierung. Der Zuschauer weiß, daß José alias Joe Carmens Reizen erliegt und sie am Ende aus Eifersucht erwürgen wird. Der Text ist überflüssig geworden, wenn man nicht mehr zu sagen hat. Gedankenlos sieht man den hüpfenden Busen der anmutig tanzenden Mädchen zu, und wer an der schlagerhaft seichten Musik Vergnügen hat, mag auch akustisch auf seine Kosten kommen.
Ich war enttäuscht. Denn im Vergleich mit der neuen ‘Carmen’ wirkt ‘Carmen Jones’ noch wie ein Klassiker.