die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 39
Autor People Show
Theater
Titel People Show
Ensemble/Spielort Oval House/London
Inszenierung/Regie People Show
Sendeinfo 1972.07.26/SWF Kultur aktuell 1972.08.02/BBC German Service/Gehört, Gesehen, Gelesen

Als ich vor zwei Jahren während des vom Royal Court Theatre veranstalteten Festivals der Experimentiertheater zum ersten Mal eine Vorstellung der ‘People Show’ sah, reagierte ich darauf wie die meisten Leute, die überraschend mit etwas fremdartig Neuem konfrontiert werden, das ihnen unverständlich erscheint, weil sie es nicht auf das schon selbstverständlich gewordene Vertraute beziehen können. Ich war verwirrt und ratlos und, weil ich mir keinen rechten Reim darauf machen konnte, nachgerade verärgert.

Die Gruppe bestand aus vier Personen, die im Zusammenspiel mit dem Publikum, aber ohne zwingende Beziehung zueinander, sich selbst und ihre subjektiven Phantasien, Wunschvorstellungen und Ängste improvisierend darstellten. Was dabei entstand, war mit Theater im üblichen Sinne kaum zu vergleichen. Man erlebte ein Happening, bei welchem die Akteure sich scheinbar völlig dem Zufall, der Inspiration des Augenblicks überließen. Inzwischen ist die People Show durch die Eigenständigkeit und Unnachahmbarkeit ihres Stils und die Konsequenz, mit der die Gruppe ihren eigenen Weg gegangen ist, schon zu einem internationalen Begriff geworden.

Die sogenannte ‘Gott weiß wievielte Show plus drei’, die die Gruppe soeben im Londoner Oval House vorstellte, hat kaum noch etwas von Zufälligkeit und blinder Willkür. Sie besticht durch virtuose Technik und traumhafte Sicherheit im Ausdruck.

Die Szene zeigt eine Gewächshausidylle: Zwischen Grünpflanzen, Blumentöpfen, Körben, Leitern, Gießkannen und Vogelkäfigen versteckt – zwei junge Leute; er hinter einem blumenumrankten Klavier verborgen, sie ein paar Meter weiter, mit einer Näharbeit beschäftigt. Dialogfetzen, leise, unsentimental, dann wieder Stille. Plötzlich ein Donnerschlag und Finsternis. Und dann erscheint in einem Seiteneingang eine gesichtslose Gestalt mit mumienartigem Kopfverband und sagt: “Laura, ich bin’s, zurück von Paris!”.

Großes Durcheinander von Stimmen, Erregung. Der Heimgekehrte versucht sich mitzuteilen, will von seiner Reise berichten. Aber die Idylle ist hermetisch verschlossen und wehrt ihn ab. Enthusiastisch beschreibt der Reisende die Traumstadt Paris: die Boulevards, ein Bordellerlebnis und – Klimax der Seligkeit – den Eiffelturm. Die Auffahrt zur Spitze des Turms wird zum exstatischen Bericht einer Himmelfahrt. Fast unirdische Stille, dort oben am Turm – und dann der Absturz: “Ich dachte, was, wenn ich einfach hinunter springen würde?“. Ein Blumentopf klatscht auf den Bühnenboden und zerspringt.

Doch er ist durchgekommen und heimgekehrt, hat einen Koffer voll Herrlichkeiten mitgebracht, Brot, Baguette aus Paris. Laura will nichts davon wissen. “Du hättest es nicht tun sollen”. Apathisch geleitet sie den Zurückgekehrten ins Haus, setzt ihn behutsam nieder und beginnt, die Binden seines Verbands zu vernähen. Aus der Einstichstelle sickert Blut, rinnt über sein Gesicht und den reglosen Körper. Unter Blumentöpfen und Körben begräbt man ihn. Dann wieder Stille. Frieden. Die Szene versinkt in Finsternis. Ein einzelner Lichtstrahl liegt noch auf dem kleinen weißen Tierschädel, der vorn vor der Bühne an einer Schnur von der Decke hängt. Dann Dunkel.

Die People Show liefert poetische Bilder ohne Moral, Spielräume für die Phantasie der Zuschauer, szenische Gedichte, die für sich selber sprechen.

 

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