die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 345
Theater/ Kulturpolitik
Titel Notizen zum Thema Kunst und Gesellschaft – Blickpunkt Theater
Ensemble/Spielort Wiener Zentralsparkasse/Wien
Sendeinfo 1978.05.18./19./Symposion 'Kunst als gesellschaftliche Herausforderung'

 

 

Vorbemerkung:

Die im Frühjahr 1978 niedergeschriebenen Notizen entstanden anläßlich eines von der Wiener Zentralsparkasse veranstalteten internationalen Symposions zum Thema ‘Kunst als gesellschaftliche Herausforderung – Künstlerische Innovation und ihr Stellenwert in der Gesellschaft’ (18./19. Mai 1978). Sie gehen aus von Beobachtungen im Bereich des Theaters. Theoretisch stützen sie sich weitgehend auf die Schriften von Adorno und versuchen, einigen ihrer Grundgedanken zu folgen.

 

 

 

T h e s e n p a p i e r

 

Zu sagen, was es mit Kunst auf sich habe, läuft auf den Versuch hinaus, begrifflich zu benennen, was seinem Wesen nach sich nicht begrifflich benennen läßt.

 

Die Werke der Kunst gehören zur empirischen Wirklichkeit, wie sie andererseits der Realität der Sachwelt sich kritisch widersetzen. Theater entwirft szenische Gebilde. Aus realen Elementen konstituiert sich ein Irreales, das die Gesetze der einfachen Wirklichkeit bricht und aus ihrem Rahmen herausfällt.

 

Der Polarität Kunst und Gesellschaft entspricht die Polarität Bühne und Publikum. Kunst ist nur vorstellbar als Ausdruck der bestimmten Negation einer bestimmten Gesellschaft.

 

Wiederentdeckung des aller Kunst innewohnenden kritischen Elements.

 

Experiment als spielerisches Ausprobieren von Möglichkeiten, die als Modelle für mißratenes Dasein hinausweisen auf die Möglichkeit einer besseren Welt.

 

Engagement als Einsicht in die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung. Die Gesinnung des Künstlers sagt nichts über die Wahrheit seiner Kunst. Die Werke reflektieren die Widersprüche der Gesellschaft.

 

Beispiele progressiver Theaterarbeit.

 

 

 

T e x t  d e s  V o r t r a g s :

 

 

Das Thema des Symposions fragt nach der “künstlerischen Innovation” und ihrem “Stellenwert in der Gesellschaft”. Wenn ich davon absehe, welchen Stellenwert das ominöse Wort “Innovation” im Bewußtsein der Eingeweihten haben könnte, verstehe ich das Thema als Frage nach den neueren Erscheinungen der Kunst und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Daß uns dieses Thema gestellt wird im Rahmen eines Symposions, dessen Idee und Durchführung wir einem Geldinstitut verdanken, dem die lobenswerte Mäzenatenrolle wohl unter anderem auch zu einem schöneren Selbstverständnis verhelfen möchte im Hinblick auf jene gesellschaftlich progressiveren Elemente, die es auf solche und andere Weise fördert, ändert ja nichts an der Tatsache, daß man sich hier um die Künste kümmert und dabei nach Möglichkeiten sucht, den Künstlern zu helfen, das zu tun, was sie tun müssen, um dem eigenen Anspruch oder, wenn man so will, ihrem gesellschaftlichen Auftrag zu genügen. Dafür sollten wir sehr dankbar sein. Andererseits wird man den Eindruck nicht los, daß es bei den Versuchen der Verwaltung von Kunst sich oft viel mehr um Absicherung handelt vor den Zumutungen der Kunst, ihrer Kritik der gesellschaftlichen Apparatur, statt um selbstlose Förderung der Arbeit von Künstlern, die den Tendenzen der Verwaltung sich gerade widersetzen, doch um zu überleben Zugeständnisse machen müssen, die ihre künstlerische Freiheit gefährden. Diejenigen von uns, die eingeladen wurden, sich über den Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft zu äußern, werden für ihren Beitrag angemessen honoriert. Es würde mich interessieren, ob man die Künstler, deren Arbeiten hier ausgestellt werden, in ähnlicher Weise bedacht hat oder ob sie mit der Ehre vorlieb nehmen müssen, überhaupt beachtet und einer Beteiligung an diesem Ereignis für würdig gehalten zu werden.

Wenn wir über Begriffe wie Kunst und Gesellschaft nachdenken, sollten wir uns darüber klar sein, daß es sich hier nicht um positiv gegebene Sachverhalte handelt. Die Begriffe sind geschichtlich vermittelt, also variable Größen; wir gehen aus von heute gängigen Begriffen. Um sie darzustellen, ist ein essayistisches Verfahren von Nutzen, das sich nicht um systematische Analyse der Phänomene bemüht, sondern sich den Impulsen des eigenen Nachdenkens überläßt, sich die Freiheit nimmt, einen Gedanken aufzunehmen, wo er sich einstellt, und ihn abzubrechen, wo das Interesse an ihm erlischt.

Jedes Denken ist kritisches Denken. Mit dem Begriff der Kritik verrät sich das subjektive Moment des Vorhabens. Es kann nicht darum gehen, etwa nach einer gültigen Definition des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft zu suchen – so als wenn es irgendwo im Objektiven eine verbindliche Definition dafür gäbe – sondern nur um die Bemühung zu sagen, was über einige Phänomene der neueren Kunst sich vielleicht sagen ließe. Im Unterschied zu Wittgensteins berühmtem Satz “Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen” geht es hier vielmehr um den Versuch, begrifflich zu benennen, was seinem Wesen nach begrifflich sich eigentlich nicht benennen läßt. Es ist das bekannte Dilemma aller philosophischen Interpretation von Kunst, aller ästhetischen Theorie, ein wesentlich mimetisches Phänomen mit den Mitteln des Begriffs fassen zu wollen, ein problematisches Unterfangen, auf das die Werke der Kunst gleichwohl angewiesen scheinen. Sie warten gewissermaßen auf die kritische Arbeit dessen, der ihrer Wahrheit auf die Spur zu kommen versucht und dabei einlöst, was sie in ihrem Wesen sind: sie sind es als Versprechen, das sich erfüllt im Akt des Verstehens.

“Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr, noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht“. Dieser Satz am Anfang von Theodor W. Adornos ‘Ästhetische Theorie’ umschreibt das Ausmaß der Schwierigkeiten, mit denen zu rechnen ist.

An den Erscheinungen der neueren Kunst fällt unter anderem auf, daß sich die einzelnen Gattungen nicht mehr strikt voneinander unterscheiden. Die Grenzen haben sich verwischt. Was etwa heute im modernen Theater geschieht, reicht mitunter weit in die Gebiete der bildenden Kunst, der Musik oder der Lyrik hinein, ohne daß von einer allgemeinen Tendenz in Richtung auf jenes fragwürdige Gesamtkunstwerk die Rede sein könnte, das die Grenzen der künstlerischen Gattungen aufheben möchte, doch in dem Bestreben, mehr zu sein – gleichsam potenzierte Kunst – sich zum bloßen Konglomerat von Verschiedenem reduziert, einem schlecht Allgemeinen, das mit den Prinzipien der Kunst selbst eigentlich nichts mehr zu tun hat. Denn Kunst geht es um Ausdruck von Erfahrungen, nicht um die Verwirklichung von Ideen, die die reale Zersplitterung, die Wirklichkeit der Entfremdung durch künstliche Verschmelzung des Heteronomen einfach überspielen zu können glaubt.

Diese Aufweichung der Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten bedeutet nicht, daß wir von den Unterschieden der Gattungen einfach absehen, nun getrost von Kunst schlechthin reden dürften, ihrer allgemeinen Idee, in welcher das jeweils Besondere auf- oder untergehe. Daß sich die Gattungsbereiche überlagern, mag ein Indiz sein für den Prozeß der Auflösung traditioneller Vorstellungen, der verhärteten Formen, eine Entwicklung, die zu begrüßen wäre als eigentliche Bedingung der Möglichkeit künstlerischer Kreativität. Da die Wahrheit der Kunst sich nur in der Erfahrung der Wahrheit eines bestimmten Werkes erschließt, bleiben wir angewiesen auf die Auseinandersetzung mit einem jeweils Besonderen. Gemeint ist die Vermittlung eines Subjektes, das sich auf ein objektiv, gewissermaßen unfertig Gegebenes einläßt und dabei auch etwas von sich selbst, dem Wesen seiner historischen Gegenwart begreift.

Allgemein gesprochen sind die Werke der Kunst natürlich zunächst einmal Teil der empirischen Wirklichkeit. Sie sind Artefakte, von Menschen gemachte Produkte, die wir anschauen, anhören oder anfassen können. Doch ihrem besonderen Wesen nach stehen sie ebensowohl im Widerspruch zur Realität der empirischen Erscheinungen, haben eine eigene Wirklichkeit, die auf die Realität der Sachverhalte sich kritisch bezieht.

Das Theater entwirft szenische Gebilde, die aus vielen realen Elementen bestehen, doch ein im Vergleich zur empirischen Realität Irreales darstellen. Reale Personen bewegen sich auf der Bühne, einem vom Zuschauer mehr oder weniger abgegrenzten realen Raum. Sie gehen und stehen mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität und bleiben mit allem, was sie tun, im Gefüge der einfachen Wirklichkeit. Doch dabei entwickelt sich spielerisch auch ein Anderes, eine nach eigenen Prinzipien funktionierende andere Welt, die sich verselbstständigt, die Gesetze der einfachen Wirklichkeit bricht und aus ihrem Rahmen fällt.

Das Theater lebt von der Spannung zwischen Bühne und Publikum. Diese triviale Aussage verweist auf ein entscheidendes Strukturelement des Theaters, wie auf ein wichtiges Moment an jeglicher Kunst: Ihren Widerstand gegen die Gesellschaft, zu der sie gehört, den sie selbst da, wo sie dem herrschenden Geist nach dem Munde redet, nicht leugnen kann. Philosophisch kann Kunst nur noch als Ausdruck der bestimmten Negation verstanden werden. Das Wort ‘Sozialistischer Realismus’ wie die ‘Kunst im Dritten Reich’ ist in diesem Zusammenhang zum Inbegriff einer affirmativen Kunstpolitik geworden. Kunst, die sich der Forderung der Gesellschaft beugt, hört auf, Kunst zu sein, und wird zur geistlos repetitiven Übung, die über den wahren Charakter des wie auch immer unvollkommenen gesellschaftlichen Zustandes betrügt.

Ein solcher Zug des Betrügerischen fiel auch auf an der lange maßgeblichen Theaterpraxis, die der etwas vage Begriff Illusionismus meint. Die szenischen Veranstaltungen, die er benennt, waren darauf angelegt, das Publikum über den Charakter der künstlerischen Vorgänge zu täuschen. Mit Berufung auf die Schriften Konstantin Stanislawskis entwickelte sich jene Theorie der Einfühlung, gegen die der junge Brecht so vehement polemisierte. Das Theater wollte so tun, als seien die Vorgänge auf der Bühne im selben Sinne real wie die sie umgebende Wirklichkeit. Damit die Täuschung gelänge, sollte der Schauspieler eins werden mit seiner Rolle und dadurch dem Publikum zur möglichst rückhaltlosen Identifikation mit dem Dargestellten verhelfen.

Sicher ist, daß diese Tendenz der Vortäuschung einer falschen Wirklichkeit – bei aller Größe einzelner Werke, die in solchem Geist entstanden und sich gewissermaßen gegen ihn behaupteten – die Kunst des Theaters zerrüttete und ihrem eigenen Wesen entfremdete. Die polemische Haltung zum sogenannten illusionistischen Theater wurde, wie wir wissen, zum Ansatzpunkt der Brechtschen Theaterarbeit, einer Rückbesinnung der Bühnenkunst auf ihr entfremdetes Wesen.

Die Kritik an der von Stanislawski entwickelten Theorie der Einfühlung hat in der Folge immer wieder zu dem Mißverständnis geführt, der Schauspieler könne und solle jede Form von Einfühlung in die Figur seiner Rolle vermeiden, damit die Darstellung als Kunstprodukt erkennbar bleibe. Dabei wird verkannt, daß der Schauspieler kaum eine Rolle angemessen darstellen kann, wenn er sich nicht mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen zunächst einmal vollkommen auf den Charakter der dazustellenden Figur eingelassen hat – eine Form von Identifikation, die über ein rein rationales Verständnis der Rolle und ihre gesellschaftlichen Gegebenheiten weit hinausgeht – , bevor er sich innerlich distanzierend wieder von ihr entfernt, um zu vermeiden, daß der Zuschauer seinerseits in die theatralische Handlung so sehr einbezogen wird, daß ihm Hören, Sehen und Denken vergeht. Der Weg zum sogenannten Verfremdungseffekt muß über Stanislawski führen.

Brechts kaum zu überschätzender Beitrag zum Theater der Gegenwart ist die Wiederentdeckung des dem Theater wie Kunst überhaupt innewohnenden kritischen Elements. Seine Stücke fordern auf zur Kritik, indem sie sich kritisch verhalten auch gegen sich selbst. Sie erziehen zur Reflexion auf das Wesen der szenischen Vorgänge, verstehen sich als Versuche der künstlerischen Darstellung wirklicher Erfahrungen. Das Experimentelle wird wieder zu einem wesentlichen Charakteristikum des neuen Theaters. Es ist das spielerische Ausprobieren von Möglichkeiten, die, wo der Versuch gelingt, als Modelle für mißratenes Dasein hinausweisen auf die Möglichkeit einer besseren Welt.

Ein anderes, freilich ebenso wenig ganz neues Element der zeitgenössischen Kunst, das in den Werken vieler Künstler heute zentrale Bedeutung gewonnen hat, ist das Phänomen des Engagements. Engagement ist das Produkt der Einsicht des Künstlers in die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung, die subjektive Intention, die sich den Werken mitteilt und darum aus ihnen spricht. Engagement, so könnte man sagen, ist das Kriterium moralischer Integrität. Das Ausmaß des Unrechts in der Welt, die alle Vorstellungskraft übersteigenden Greuel, die Menschen an Menschen begehen, die faktische Übermacht des Bösen, das Elend der Schwachen, die ganze himmelschreiende Erbärmlichkeit einer mißratenen Menschheit liegt heute so offen zutage, daß wir dem Künstler, der von alldem nichts wissen will, den menschlichen Respekt versagen müßten. Daß einer, der sich der heute jedermann zugänglichen Erfahrung der Selbstzerstörung des Menschen nicht verschließt, vom Leid der Opfer durchdrungen ist und sich auch inhaltlich darauf beziehen, seine Scham und Schande laut in die Welt schreien möchte, ist nur allzu verständlich. Doch die Gesinnung des Künstlers sagt noch nichts über die Wahrheit, also den Wert seiner Kunst. Wegen ihres mimetischen Charakters erweist sich ihre Wahrheit einzig in der durchgebildeten Form, dem eigentlichen “Ort des gesellschaftlichen Gehalts” (Adorno).

Die politischen Einsichten, die die Stücke vermitteln wollen, haben ihre Bedeutung als Aussagen über den Zustand der Welt. Dem Kunstwerk als solche sind sie gewissermaßen eine Äußerlichkeit, sofern sie nicht aufgehen in der Form. Dies gilt für die meisten Stücke des sogenannten politischen Theaters, die aus dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung bestimmte Ideen proklamieren. Wie weit das, was sie dabei leisten, mit Kunst etwas zu tun hat, entscheidet sich einzig an der Frage ihrer formalen Durchgestaltung. Ob das Theater, Kunst überhaupt, das politische Bewußtsein der Menschen unmittelbar beeinflussen und damit womöglich auch auf eine reale Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse hinwirken kann, ist ungewiß. Künstlerische Gebilde, die solche sind, scheinen sich dem Bestreben, sie als Träger von Ideen zu mißbrauchen, erfolgreich zu widersetzen.

Brecht hat als Künstler um die zwiespältige Natur des sozialen Engagements gewußt und beim Schreiben seiner Stücke wie bei ihrer Inszenierung immer wieder gegen die eigenen Intentionen verstoßen zugunsten einer tieferen Wahrhaftigkeit, die sich gegen ideologische Verstellungen durchsetzt. So erklären sich die Widersprüche in seinem Werk. Die offene Struktur seiner Stücke ist die ihnen gemäße Form, Ausdruck der in den Werken reflektierten Widersprüche der Gesellschaft.

Die Werke des Theaters, die am weitesten von der realen Alltäglichkeit sich entfernen, wie etwa die Stücke Samuel Becketts, scheinen gerade durch die Radikalität solcher Abkehr den Anspruch von Kunst als “bestimmter Negation einer bestimmten Gesellschaft” zu erfüllen und mehr als alle anderen den Charakter des Utopischen konsequent durchzuhalten. Das utopische Moment, die Verheißung der Möglichkeit eines besseren Lebens, strahlt aus der Konstruktion des negativen Ausdrucks. “Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien”, heißt es bei Adorno, “ist, daß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf ... Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten”.

Lassen Sie mich versuchen, diese notwendigerweise abstrakten Gedanken mit einem kurzen Blick auf die Londoner Theaterszene ein wenig zu illustrieren.

Die Theaterstadt London hat viele Gesichter. Neben den imposanten Großunternehmen (wie National Theatre, Royal Shakespeare Company, Royal Opera, Royal Ballet) und den vielen kommerziellen Betrieben des Londoner Westends gibt es eine kaum mehr übersehbare Anzahl kleiner und kleinster Gruppen, von deren Arbeit die größere Öffentlichkeit nur hin und wieder Kenntnis nimmt, obwohl sie insgesamt im britischen Theaterleben eine sehr wichtige Rolle spielen. Das gilt insbesondere für jene Gruppen, die sich nicht damit begnügen, bereits fertig vorliegende Texte nach altem Verfahren einzustudieren und dann einem Publikum vorzuführen, sondern ihre Stoffe selbst entwickeln und mehr oder weniger systematisch nach zeitgemäßeren neuen Ausdrucksformen im Bereich des Theaters suchen.

In den siebziger Jahren durfte die Pip Simmons Theatre Group als eine der besten und künstlerisch aktivsten der sogenannten Fringe Theatre Groups gelten, jener kleinen Ensembles, die am Rande der Londoner Theaterszene, im Schatten der Großbetriebe, oft artistisch im Vorfeld der theatralischen Entwicklung arbeiten. Was die Pip Simmons Theatre Group und ihre singenden, tanzenden und musizierenden Schauspieler auszeichnete, war die Vehemenz ihres politischen Engagements, ihr Formgefühl, ihr artistisches Können, ihre präzise Darstellungstechnik und eine Musikalität, die man mancher Popmusik-Gruppe wünschen mochte.

Das Team unter der Leitung von Pip Simmons wurde Ende der Sechzigerjahre gegründet. Neben einer Anzahl kleinerer Experimente entstanden bis 1978 neun große Inszenierungen, die man in monatelangen Proben entwickelte. Bei den Festspielen in Edinburgh 1969 machte das Ensemble zum ersten Mal Schlagzeilen mit seiner ‘Superman’-Show, die wie eine merkwürdige Synthese aus mittelalterlichem Moralitätenspiel und Strip-Cartoon wirkte. Die Verwendung von Schwellkopfmasken unterstrich den grotesken Bewegungsstil; Rock-Musik und tanzpantomimische Ausdrucksmittel, die emphatische Geste dominierten über den gesprochenen Text, der nur noch als Wortbrücke zwischen den szenischen Nummern brauchbar zu sein schien. ‘Do It – Szenen von der Revolution’ wurde im Frühjahr und Sommer 1971 zu einem Höhepunkt der Londoner Theatersaison, eine Inszenierung, die für die englische Theatergeschichte jener Jahre ebenso wichtig gewesen sein könnte wie Peter Brooks ‘Sommernachtstraum’, von dem zur selben Zeit alle Welt sprach. ‘Do It’ wirkte faszinierend jung, lebendig, respektlos, phantastisch, ehrlich und optimistisch. Frei nach der Partitur von Jerry Rubin wurde eine Revolution besungen, die, wie es hieß, sich hier und jetzt ereigne, wie überall dort, wo man sie lebe. “Revolution ist nicht nur, woran ihr glaubt, Revolution ist, was ihr tagtäglich tut, was ihr lebt. Wir müssen Politik auf die Einfachheit von Rock’n’Roll-Texten reduzieren. Und vor allem, wir müssen handeln. DO IT!” – und dann brach der Hexentanz los; theatralischer Auftakt zur Revolution der Jungen gegen die Alten, gegen die Obrigkeit, gegen Kapitalismus und Krieg, gegen Rassismus und Unmenschlichkeit, gegen Polizeiterror und Philisterei, gegen eine Politik, welche die USA zum Inbegriff alles Verabscheuungswürdigen gemacht hatte. Revolution aus dem Geist der Musik, für die Befreiung von allen lustfeindlichen Tabus; Revolution, die lustvoll inszeniert werden muß, ja eigentlich nur für den Spaß, die Lust am Leben veranstaltet wird und keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. ‘Do It’ war der naiv idealistische Aufschrei der Jugend gegen alle Formen der etablierten Gewalt, ein Protest, der einerseits Weltflucht propagierte, den Rückzug auf ein subjektiv verinnerlichtes Dasein, Revolution also zu einem Akt der Bekehrung verfälschte und damit der eigenen Attacke die Spitze abbrach. Doch im Ausdruck der Ohnmacht und Ratlosigkeit einer abscheulichen Welt gegenüber, deren Zwängen man nur noch durch eine Flucht nach innen entrinnen zu können glaubt, verriet sich der wahre Charakter des nach außen demonstrierten Optimismus: als Zeichen der Verzweiflung bewahrte er das Moment der Hoffnung.

Diese Negativität des Ausdrucks hinter den Bildern einer nur allzu verständlichen Sehnsucht nach einem besseren, schöneren Zustand der Welt, teilte sich in jeder gelungenen Inszenierung der Pip Simmons Theatre Group mit. Nach dem grausigen Ende der ‘George Jackson Black and White Minstrel Show’, der Erschießung eines gefesselten Schwarzen, der in einen Sack gebunden über einem Feuer schwebt, schrieb ich damals: “Die Inszenierung der Pip Simmons Theatre Group bewies erneut, daß politisches Theater möglich ist, wenn man über der guten Absicht nicht die Theatralisierung der Idee, für die man sich engagiert, vergißt und dem Publikum Kritik an den Verhältnissen, in denen es lebt, nicht nur als Pflichtaufgabe nahelegt, sondern als ein Vergnügen, für das sich der Aufwand zu leben noch lohnt”.

‘An die Musik’ (so auch der Titel im englischen Original) war ein Requiem für die in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, ein böses, entsetzliches Schauspiel von Greueln. Es zeigte die sukzessive Animalisierung von Menschen in der Rolle von Opfern und Henkern. Schon die ersten Takte signalisieren das Grauen, das in unbeschreiblich lang gezogenem Crescendo sich bis zur letzten Szene steigert, der furchtbaren Parodie auf einen Trauermarsch, den die Opfer sich selbst aufspielen, bis der Tod sie von ihren Qualen erlöst. Schrecken und Angst, die uns erreichen, überholen die Erinnerung an historisch Vergangenes, ans Dritte Reich; sie erscheinen als unmittelbare Bedrohung, als Signale der Gegenwart, in der die Greuel von Menschen an Menschen nicht aufgehört haben.

Was an solchen Beispielen ins Auge springt – Kunst als Artikulation des Leidens am mißratenen Dasein – gilt wohl ausnahmslos für alle Werke der Kunst. Sie sind in der Tat wesentlich Ausdruck der Negation. Darum wohl gilt der Satz, wer sich Kunst im Gegensatz zum Ernst des Lebens heiter vorstellt, weiß wenig von ihrer Wahrheit. Komik in den Werken ist die andere Seite der Verzweiflung. Affirmative Kunst, die heiter stimmen will, um mit der Welt zu versöhnen, betrügt.

Wie die Pip Simmons Theatre Group gehörte die Gruppe People Show seit Ende der Sechzigerjahre zur Spitze der britischen Theateravantgarde. Durch die Eigenständigkeit ihres Stils und die Konsequenz, mit der sie ihren künstlerischen Weg gegangen ist, wurde sie zu einem internationalen Begriff. Die Gruppe bestand aus fünf bis sieben Personen, die sich selbst, ihre Phantasien, Wunschträume und Ängste nach einem während der Proben festgelegten Plan improvisierend darstellten. Eine Inszenierung wurde durch Absprache der Rollen, die Idee des Ablaufs, den Rhythmus der Stimmungswechsel, der akustischen und optischen Signale arrangiert und dann in Gegenwart des Publikums szenisch ausgespielt. Die verschiedenen Produktionen hatten keine Titel; sie wurden fortlaufend nummeriert, wie die Bilder einer Serie im Bereich der ungegenständlichen Malerei. Das Ergebnis war mit Theater im alten Sinne kaum mehr zu vergleichen. Man nahm an einer Art Happening teil, bei welchem die Akteure sich scheinbar völlig dem Zufall überließen und dabei den Eindruck gaben, als könnten sie jeden Augenblick den Kurs der Ereignisse ändern; und da dies auch hin und wieder wirklich geschah, war keine Vorstellung wie die andere. Jede Inszenierung war ein ‘work in progress’, das spielerisch weitergeführt werden konnte. Das Theater gewann ein Element der Freiheit zurück, das in den repetitiven Veranstaltungen der konventionellen Bühnen fast völlig verloren gegangen war.

Die People Show entwickelte eine Form abstrakten Theaters. Wer sie aufsuchte, ließ sich auf ein Abenteuer ein. Er folgte den Personen des Spiels auf einer Reise ins Land der Imagination. Was sich an scheinbar absurden Vorgängen im Laufe des Spiels ergab, wurde so einleuchtend plausibel vorgestellt wie Traumerlebnisse, deren Realität und Glaubwürdigkeit der Träumende bedingungslos akzeptiert. Man erkannte Motive: das der Bedrohung, der Angst, der Teilnahmslosigkeit, die Motive Liebe, Hoffnung und Versagung; an jeder Ecke lauern Gefahren; wer ihnen furchtlos entgegentritt, dem verwandeln sie sich mitunter in Gesten des Glücks. Alles, was geschieht, hat Schönheit und Sinn. Es waren unsere eigenen Sehnsüchte und Ängste, die uns in traumbildhafter Form aus den Spielen entgegentraten.

Die People Show lieferte poetische Bilder ohne Moral, Spielräume für die Phantasie der Zuschauer, szenische Gedichte, die nicht mehr sagten als sie zeigten: Geschichten und Bilder ohne Hinter-Sinn. Damit folgten sie dem Anspruch der Kunst als Versprechen, worüber es bei Adorno heißt: “Ihrer bloßen Form nach verspricht sie, was nicht ist, meldet objektiv und wie immer auch gebrochen den Anspruch an, daß es, weil es erscheint, auch möglich sein muß ... Kunstwerke ziehen Kredit auf eine Praxis, die noch nicht begonnen hat und von der keiner zu sagen wüßte, ob sie ihren Wechsel honoriert”.

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