Auf die rhetorische Frage “Darf man Shakespeare verändern?“ kam seinerzeit die klassische Antwort “Man darf, wenn man kann“. Was Brecht für Shakespeare recht war, muß ihm für die eigenen Stücke billig sein. Und es gibt in der Tat keinen Grund, daran zu zweifeln, daß Brecht in der Praxis stets für die jeweils bessere Lösung, nicht notwendigerweise die eigene optiert haben würde, statt auf der Autorität des Autors zu pochen, wenn sie auf nichts anderes als auf die Autorenschaft sich berufen kann.
In diesem Zusammenhang erscheint die Haltung derer, die das Brechtsche Erbe verwalten und mit Eifer die Lehre rein, die Texte vor neuer Auslegung schützen wollen, mitunter sonderbar deplaziert. Brecht ist so wenig sakrosankt wie Shakespeare und hätte – wie oft genug festgestellt wurde – wohl weniges mehr gehaßt, als zu den nur noch respektablen Klassikern erhoben zu werden, deren Klassizität uns einschüchtert und wirklich kreative künstlerische Arbeit nicht mehr zuläßt. Man darf also Brecht verändern; sollte auch rechtlich dazu befugt sein. Man darf es, mit dem Segen des Meisters – wenn man kann. Doch dazu gehört freilich einiges.
Brechts 1925 geschriebenes Lustspiel ‘Mann ist Mann’ ist sicher nicht eines seiner stärksten Stücke. Schon die Fabel von Galy Gay, dem gutherzigen irischen Packer, der wegging, einen kleinen Fisch zu kaufen am Morgen, am Abend schon einen großen Elefanten hatte und in derselben Nacht noch erschossen wurde, niederfiel und wiederauferstand als ein anderer und sich schließlich als blutrünstige menschliche Kampfmaschine in der britischen Militärgeschichte einen Ehrenplatz erwarb, – schon die Fabel enthält, wie es scheint, mehr Widersprüche und Ungereimtheiten, als Brecht bei Durchsicht seiner ersten Stücke eingestehen mochte und mit dem später sich anbietenden Verweis auf den Surrealismus und das Absurde sich befriedigend erklären ließe.
Brecht selbst kritisierte am Stück vor allem die Rolle, welche “das falsche, schlechte Kollektiv (‘die Bande’) und seine Verführungskraft“ spielte im Verhältnis zu Galy Gay , dem “sozialen negativen Helden, der nicht ohne Sympathie behandelt war“. In der 1931 am Berliner Staatstheater aufgeführten zweiten Fassung waren die Schlußszenen gestrichen, die Brecht später wieder gespielt haben wollte, um das “Wachstum ins Verbrecherische“ zu zeigen. Manche Frage bleibt offen, fragwürdig selbst der Gedanke, daß die hier lustspielhaft demonstrierte totale Umfunktionierbarkeit eines Mannes auch als Metapher für die Veränderbarkeit des Menschen zum Guten hin verstanden werden soll.
Der Spielraum der Interpretation, die Schwächen des Stückes machen den Versuch einer Neufassung also durchaus vertretbar. Wenn aber, wie soeben im Hampstead Theatre geschehen, ein Autor und ein Regisseur über das Werk eines Dichters herfallen und es, offenbar ohne jeden Sinn für das Subtile, den intelligenten Witz, die Schönheiten des Originals, nach eigenem Belieben zurichten, den Sinn verkehren, die Handlung brutalisieren, die Charaktere verblöden, das Stück notzüchtigen, ohne irgend etwas Nennenswertes damit einzuhandeln, dann versteht man, warum die Vertreter des Autors, der sich selbst nicht mehr wehren kann, sein literarisches Erbe vor solchen Freibeutern schützen wollen
Längst hat sich herumgesprochen, daß man sich in England schwertut mit Brecht. Fast alle Brecht-Inszenierungen der letzten Jahre wirkten entweder prosaisch, unbeholfen oder zeigten einen fatalen Überhang in Richtung aufs alberne Lustspiel, bei welchem der Sinn oder Hintersinn eines Textes sich mehr oder minder verflüchtigte. Die neue Bearbeitung von ‘Mann ist Mann’ schafft – auf Kosten Brechts, mit dessen Namen geworben wird – einen neuen Rekord an Unverfrorenheit: das Stück wird als brutaler, zotiger Schwank serviert, der, bis auf den überdeutlichen Appell an geile Lacher, unverständlich bleibt.
Die Handlung scheint zunächst dem Original in den wichtigsten Punkten zu folgen. Dann fallen Sinn verändernde Abweichungen auf. Galy Gay wird als Träumer vorgestellt, den eine lebhafte Phantasie aufs Glatteis führt. In einem der neuen Songs, deren Texte nichts mehr mit den Liedern des Original zu tun haben, heißt es: “Ich hatte den Traum, daß das Leben immer besser würde“. Doch die interessante Möglichkeit, das Versagen Gays aus solchem weltfremd optimistischen Vertrauen zu motivieren, bleibt ungenutzt, weil nirgendwo angedeutet wird, wie Gay seiner Umwelt anders hätte begegnen sollen. Die Klage über die Brutalität der Armee hört sich wie eine Empfehlung zum Opportunismus an, wenngleich ein späteres Lied eine andere Botschaft heimzugeigen versucht: “Ein Mensch ist ein Mensch/ und kann sagen: Nein” – wie am Beispiel Galy Gay zu zeigen gewesen wäre.
Der passive, schwerfällige, durch und durch instinkthaft handelnde Galy Gay darf sich interpretieren und damit ein Maß an Selbsterkenntnis beweisen, das ihn gegen die plumpe Verführung, der er erliegt, immun machen müßte. Stefan Kalipha als Darsteller der Hauptrolle, ein hagerer Zappelphilipp indischen Geblüts mit fahrigen Gesten und ruhelos schweifenden Augen, hat nichts von einem phlegmatischen Iren, der einem Elefanten ähneln soll. Die natürliche Tonsur des Schauspielers macht diesen Galy Gay schon von vornherein als Ersatzmann für den skalpierten vierten Soldaten unbrauchbar.
Sergeant Fairchild, “der blutige Fünfer”, möchte von Witwe Begbick ein Kind haben, wozu er auf offener Bühne die Hose herunter läßt, um sich auf die lustvolle Witwe zu stürzen, die ihn jedoch aufs Hinterteil eines Soldaten ablenken kann. Fairchild, der sich wegen seines übermäßigen Sexualtriebs am Ende des Stückes entmannt, gilt hier groteskerweise als impotent. Nach der unter solcher Voraussetzung sinnlosen Kastration wird er, mit blutigen Händen vorm Unterleib, wieder ins szenische Geschehen einbezogen.
Als nach geschlagener Schlacht schließlich der echte Jeriah Jip auf die Bühne wankte und von den Kameraden, die keine Verwendung mehr für ihn haben, kurzerhand erschossen wurde, wünschte sich ein Zuschauer, wie ich bezeugen kann, es hätte statt seiner den Regisseur Roland Rees getroffen, der für die skandalöse, verworrene und verwirrende Inszenierung verantwortlich zeichnet.
Ein Londoner Kritiker schrieb nach der Premiere, Brechts ‘Mann ist Mann’ habe im Hampstead Theatre “eine gut konzipierte und überaus unterhaltsame Auffrischung erfahren”. Ein anderer meinte dagegen treffender, man müsse annehmen, das Brecht sich im Grabe drehte.