In einem 1976 veröffentlichten Verzeichnis britischer Bühnenautoren heißt es bei Howard Barker: “Besonderheiten: Ich habe über Klassenkampf, Ausbeutung, Unterdrückung geschrieben – zumeist in semi-realistischem Stil”. Barkers Stärke ist die politische Satire, die gesellschaftskritische Farce. Er erfindet phantastische Geschichten und sonderbare Charaktere in Situationen, die trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit als Reflex auf reale Verhältnisse zu verstehen sind. Was uns in den Stücken absurd erscheint, ist der metaphorische Ausdruck von realen Ängsten vor dem Hintergrund eines allgemeinen moralischen Verfalls. Lüge, Täuschung und Heuchelei sind zur Norm geworden. Das Monströse gibt sich harmlos alltäglich. Der Boden, auf dem wir gehen, schwankt.
“Ist Howard Barker nur darauf aus, uns zu schockieren? Oder hat er uns etwas Wichtiges zu sagen?“, fragt der Kritiker des ‘Daily Telegraph’ in echter Ratlosigkeit gegenüber Barkers neuem Stück ‘The Hang of the Gaol’ (Der Sinn des Gefängnisses), soeben uraufgeführt von der Royal Shakespeare Company im Londoner Warehouse Theatre.
Ein Gefängnis ist ausgebrannt. Der Innenminister hat eine Untersuchungskommission eingesetzt, die die Brandursache feststellen und im Falle des Nachweises von Brandstiftung den möglichen Täter ermitteln soll. Ein exzentrischer alter Beamter, dessen Hang zum Alkohol nur noch durch seine fanatische Wahrheitsliebe übertroffen wird, leitet die Untersuchung des Falles, die zu überraschenden Ergebnissen führt und dabei mehr und mehr von ihrem Anlaß, der Ermittlung des Täters, abtreibt und zur Grundsatzdebatte über einige der vom Autor bestgehassten Denk- und Verhaltensmuster der britischen Bourgeoisie gerät. Die berühmte englische Kunst der Untertreibung im sprachlichen Ausdruck, die Tendenz zur verschleiernden Rede, der Hang zur liberalistischen Duldung selbst des Intolerablen erscheinen Barker als Inbegriff der Charakterlosigkeit, der Feigheit vor den Realitäten, als die andere Seite der Repression, von deren Auswüchsen das öffentliche Leben des Landes geprägt zu sein scheint, so daß wir die Szenerie des Stückes, die Ruinen eines ausgebrannten Gefängnisses, als Metapher für den Staat verstehen müssen, dessen abgrundtiefe Unmoral von den englischen Stückeschreibern der jüngeren Generation mit so bemerkenswertem Mut immer wieder verhöhnt und verurteilt wird, einem Mut, der umso mehr Bewunderung verdient, als die Kritik, um die es sich handelt, sich nicht psychologisierend absichert, sondern die gesellschaftliche Basis selbst, das durch die Gesetze der parlamentarischen Demokratie geschützte kapitalistische System als solches in Frage stellt.
Die im deutschen Sprachbereich zurzeit kaum vorstellbare Art der offenen kritischen Auseinandersetzung mit politischen Sachverhalten und den ideologischen Bedingungen ihrer Möglichkeit hebt solche Stücke über die begrenzten Anlässe, auf die sie zurückgehen, hinaus und läßt sie insgesamt als Zeichen eines immer deutlicher vernehmenbaren moralischen Aufstands erscheinen, dessen Stimmen im Fernsehen, dem wegen seiner Massenwirkung viel gefährlicheren Medium, zwar auch hierzulande einigermaßen erfolgreich unterdrückt werden, doch auf der Bühne sich noch ungehindert artikulieren können. In solchem Sinne erfüllt das Theater noch den uralten Anspruch: darzustellen, was uns entscheidend betrifft.