die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 120
Autor Robert Holman
Theater
Titel Outside the Whale
Ensemble/Spielort Bush Theatre/London
Inszenierung/Regie Cris Parr
Hauptdarsteller Geoffrey Jackson
Uraufführung
Sendeinfo 1978.02.28/SWF Kultur ktuell/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Robert Holmans Stück ‘German Skerries’, uraufgeführt am Anfang des vorigen Jahres im Londoner Bush Theatre, brachte dem jungen Autor den begehrten Kritikerpreis der Zeitschrift ‘Plays & Players’: ‘Most Promising Playwright 1977’. Es war ein Stück über die nordenglische Industrielandschaft im Mündungsgebiet des Flusses Tees, eine Studie über die Verschwendung menschlicher Möglichkeiten, das Zerstörerische in der Zivilisation, beobachtet an den in den Menschen verinnerlichten Folgen.

Holmans neues Stück ‘Outside the Whale’ (Außerhalb des Wals) ist zeitlich früher entstanden, und wenn ihm noch die faszinierende atmosphärische Dichte der ‘German Skerries’ mangelt, so zeigt sich doch an der Fülle scharf beobachteter, genau erinnerter Details, der liebevollen Charakterisierung der Figuren, dem Sinn fürs Skurrile und dem Gespür für szenische Komik bereits das bemerkenswerte Talent des Stückeschreibers, der inzwischen zum Hausautor des Nationaltheaters ernannt wurde, ein Stipendium erhielt und von der Royal Shakespeare Company umworben wird.

‘Outside the Whale’ bezieht sich im Titel auf einen Text von George Orwell, in dem es heißt: “Im Inneren eines Wals zu sein, ist ein sehr schöner, angenehmer, heimeliger Gedanke ... Der Bauch des Wals ist ganz einfach ein Uterus, so groß, daß ein Erwachsener darin Platz hat. Da bist du nun, in dem dunklen, geräumigen Ort, ... mit meterdicken Speckwänden zwischen dir und der Realität, die dir eine Haltung völliger Indifferenz gewährt gegenüber allem, was geschieht”.

Holmans Stück besteht aus fragmentarisch wirkenden Szenen, die wegen ihrer scheinbaren Zusammenhanglosigkeit das Publikum einigermaßen ratlos lassen über den tieferen Sinn des Ganzen. Der erschütternden wirklichen Armut eines jungen Paares, das in der Zeit der großen wirtschaftlichen Krise am Anfang der Dreißigerjahre nicht weiß, wie es auf ehrliche Weise überleben soll, wird der selbst auferlegten Armut des Schriftstellers Eric Blair alias George Orwell gegenübergestellt, der mit Tramps durch die Lande zieht, um seine Erfahrungen in Buchform niederschreiben zu können. Dabei entsteht der Eindruck, daß Orwell selbst gleichsam im Inneren des Wales geborgen ist, teilnahmslos, indifferent, während die anderen draußen in der Kälte leben.

Robert Holman scheint sagen zu wollen, daß Orwell, der ehemalige Eton-Schüler, im Unterschied zu den wirklichen armen Leuten in relativem Wohlstand hätte leben können, sofern er nur gewollt hätte. Eine sicher etwas unfaire Hypothese, da Orwell wirkliche Not sehr wohl am eigenen Leib erfahren mußte und sich dabei eine Tuberkulose zuzog, an der er in relativ jungen Jahren starb. Orwells Beschreibung der Lebensverhältnisse von Landstreichern und Obdachlosen in Frankreich und England am Anfang der Dreißigerjahre ist überdies ein sozialgeschichtliches Dokument, bei dem die Frage nach Herkunft und Motiven des Autors, der sich eine Zeit lang mit Tramps und Clochards herumtrieb und deren Schicksal teilte, irrelevant erscheint.

Chris Parrs Inszenierung im Bush Theatre zeichnet sich aus durch unaufwendige Intensität und bewundernswerten Scharfsinn für kleine realistische Details, die die Vorgänge immer interessant, unterhaltsam und wichtig machen, selbst wo sie rätselhaft wirken, weil der gedankliche Zusammenhang unklar bleibt.

Die zweifellos schönsten Momente hat das Stück in den Szenen zwischen Orwell und dem verlumpten, dreckverkrusteten Landstreicher Bazz, eine Figur, die an Becketts Ganoven und Pinters ‘Hausmeister’ erinnert: ein ungebärdiger, skurriler, tragikomischer Charakter, den Geoffrey Jackman in der Aufführung des Bush Theatre auf unvergeßliche Weise verkörperte.

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