die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 42
Autor John Cage u.a.
Multimedia
Titel ICES '72/ International Carnival of Experimental Sounds
Ensemble/Spielort Roundhouse & The Place/London
Sendeinfo 1972.08.18/BBC German Service/Gesehen, Gehört, Gelesen

ICES – “Internationaler Karneval des experimentellen Klangs“ – ist über London hereingebrochen wie ein Schneegewitter mitten im Sommer. “Werft einen Blick auf eure Stadt“, hieß es in einer Ankündigung auf das Ereignis, “ denn in zehn Tagen wird London nicht mehr sein, was es war“. Die Invasion ist in vollem Gange. Hunderte von Musikern, Tontechnikern, Lichtakrobaten, Tänzern, Mimen, Filmemachern, Künstlern und Pseudokünstlern fast aller Gattungen aus 26 Ländern haben das Roundhouse und The Place besetzt und zu Hauptquartieren eines überdimensionalen Festivals gemacht, das in vagem Bezug auf die spielerisch-alliterierenden Schlüsselworte ‘Mythos, Magie, Madness und Mystik’ die Stadt aus dem Sommerschlaf schrecken will. Vor der Gewalt des akustischen Potentials sollen die traditionellen Gewohnheiten des Publikums wie die Mauern von Jericho fallen und den neuesten Entwicklungen der experimentellen Musik im (musikalisch) konservativen Londoner Milieu zum Durchbruch verhelfen.

John Cage, der alternde Avantgardist der jungen Musik, eröffnete das Festival mit einem Konzert für sieben elektronisch verstärkte Cembali, 52 Tonbandgeräte und diverse, auf die Wände des Roundhouse gerichtete Diapositiv- und Filmprojektoren. Ein Teil der Gruppen wird in der nächsten Woche mit einem Sonderzug für 600 spielende, singende, tanzende und schmausende ‘Karnevalisten’ nach Edinburgh fahren und sich über Parks und Wiesen der Festspielstadt ergießen.

Neben zahllosen Einzelveranstaltungen in den Londoner Hochburgen – vornehmlich musikalische, filmische oder sogenannte Intermedia-Darbietungen – wird in The Place von vier Ballettensembles, zwei amerikanischen und zwei englischen Gruppen, eine Reihe von Tanzstücken uraufgeführt, bei denen neue musikalisch-akustische Effekte eine wichtige Rolle spielen. Von den ersten Vorstellungen der beiden englischen Gruppen gefiel vor allem ‘Tiger Balm’ (Tiger-Balsam) von dem neu gegründeten Ensemble ‘Strider’ zu einer Orchestration von Tierstimmen und Nachtgeräuschen (Katzenschnurren, Atemtöne, Herzklopfen, Glockenschläge und Tigerlaute) mit fünf Tänzern in weißen, durchscheinenden Gewändern und einem nackten Jüngling.

Das in The Place residierende London Contemporary Dance Theatre brachte bisher drei Uraufführungen, wobei das Stück ‘Relay’ (Staffel) zu improvisierten Tonfolgen an Piano und Cello vom Publikum besonders stark akklamiert wurde. Die Choreographie von Siobhan Davies ist inspiriert worden von den Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele. Zwei Männer und ein Mädchen posieren auf Siegerpodesten, gleiten mit Schwimmbewegungen zu Boden, imitieren oder parodieren – stark stilisiert – bezeichnende Haltungen und Bewegungen der verschiedenen Sportarten: Läufe, Sprünge, Ballspiele, turnerische Übungen und Zweikämpfe. Höhepunkt des Stückes ist der im Zeitlupentempo vorgeführte Kampf zweier Ringer, wobei alle Gewaltsamkeit und Schwere der ineinander verkeilten Körper in tänzerisch leichte, überaus ästhetische Bewegungen sich auflöst.

Die Choreographien beider Ensembles zeigen deutlich eine Tendenz zum abstrakten Ausdruck, zur elementaren Körperhaftigkeit, – Tanz als Zwiesprache von Körper und Ton, die mehr oder weniger unabhängig voneinander, improvisierend sich entwickeln und, mehr vom Zufall als vom vorfixierten Plan bestimmt, korrespondieren.

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