die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 24
Autor Ken Campbell
Theater
Titel An Evening with Sylveste McCoy
Ensemble/Spielort Ken Campbel’s Rooad Show/Theatre Upstairs/London
Inszenierung/Regie Ken Campbell
Sendeinfo 1972.01.13/BBC German Service/Gehört, Gesehen, Gelesen

Im Theatre Upstairs des Royal Court gastiert in diesen Wochen eine Gruppe, die sich ‘Ken Campbels Straßentheater’ nennt und sich vor allem in Gasthäusern, in Clubs und bei größeren Versammlungen präsentiert mit einer Folge lose aneinandergereihter 3-Minuten-Sketsche, Moritatenlieder, kabarettistisch ausgespielten Anekdoten und Witzen, ‘unwahrscheinlichen’ Erlebnisberichten und Drag-Act-Einlagen. Sie versteht sich als ‘Pop Drama Group’ und will vor allem die Leute belustigen und möglichst angenehm unterhalten, ohne jede Absicht, etwas wie Kunst zu produzieren.

Ken Campbells neue Show nennt sich ‘Ein Abend mit Sylveste McCoy - Die lebende Bombe’, und es gibt keinen Zweifel daran, daß er und seine drei Akteure damit bei den beliebten Gastspielen in Londoner Pubs vor ihrem Bier trinkenden Publikum mindestens ebenso viel Erfolg haben werden wie mit seinen vorangegangenen Programmen. Die früher mehr oder weniger selbständigen Nummern gewinnen in Campbells neuer Show formal festeren Zusammenhalt durch die zentrale Figur eines Schaustellers, mit marktschreierischer Gebärde vorgestellt von einem Conférencier im Stil der altenglischen Music Halls.

Sylveste McCoy, dargestellt von Sylveste McCoy, ist ein relativ kleines, schlankes Männchen mit Ziegenbart und wehendem Haarschopf, das auf höchst groteske Weise die Rolle des vom Volk umjubelten, mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestatteten Kraftprotzen zu spielen versucht und dabei keinen der derben Gags verschmäht, die das Publikum auch heute noch vor Vergnügen kreischen lassen. Obwohl die Texte festgelegt sind, bieten die einzelnen Nummern genügend Spielraum für Improvisationen, je nach Reaktion der sehr direkt angesprochenen Zuschauer, die im Verlauf des Programms mehr und mehr ihre anerzogenen Hemmungen ablegen, mit Zwischenrufen antworten und darum auch gelegentlich aufgefordert werden, auf der Bühne einfach mitzutun.

Die lockere Atmosphäre, in der das alles geschieht, läßt das normale Theatergefühl erst gar nicht aufkommen. Schon beim Betreten des Zuschauerraums werden die Gäste von einem der Darsteller herzlich und persönlich begrüßt und eingeladen, an den im Saal verteilten kleinen Tischen Platz zunehmen und sich der Annehmlichkeiten der Bar zu bedienen, die auch während der Show geöffnet sei.

Dann tritt Sylveste auf, ‘die lebende Bombe’, schlägt sich einen 20 cm langen Nagel waagerecht in die Nasenöffnung bringt einen hünenhaften Ringkämpfer zur Strecke, der von der Bühne in den Saal kugelt und leblos im Schoß eines hübschen Mädchens hängen bleibt. Nachdem zwei starke Männer aus dem Publikum sich vergeblich bemüht haben, Sylveste in der Schlinge eines armdicken Seils zu erdrosseln, läßt der Unbesiegbare sich in Handschellen und eiserne Ketten legen, aus denen er sich in Sekundenschnelle wieder befreit.

Zum Höhepunkt des Programms wird eine Demonstration, die in der Pause im Hinterhof des Theaters stattfindet, wobei Silvester, mit nacktem Oberkörper am Boden liegend, auf seiner Brust eine Feuerwerksbombe explodieren läßt sowie, gegen Ende der Show, der aufregende Versuch, ein lebendes Frettchen, jenes für seine Bissigkeit bekannte kleine Raubtier, über eine Minute lang ohne alle Sicherheitsmaßnahmen in seiner Hose eingeschlossen vor dem Bauch zu halten.

“Ist es Kunst, sich ein Frettchen in die Hose zu stecken?”, schrie, scheinbar empört, die Schlagzeile einer Zeitung nach der Premiere. In der Vorstellung wurde dringend davor gewarnt, das Kunststück zu Hause selbst zu versuchen. Das Publikum, das seriöse Bühnenkunst nicht zu vermissen schien, reagierte mit schenkelklopfender Heiterkeit.

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