die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 23
Autor Roy Kift
Theater
Titel Genesis
Ensemble/Spielort Freehold Company/Cockpit Theatre/London
Inszenierung/Regie Nancy Meckler
Uraufführung
Sendeinfo 1972.01.07/BBC German Service/Gehört, Gesehen, Gelesen

Die Freehold Company ist - neben der Pip Simmons Theatre Group - ohne Zweifel die beste und professionellste unter den experimentellen Theatergruppen in England. ‘Genesis’, ihre neueste Inszenierung, vorgestellt im Londoner Cockpit Theatre, bestätigt erneut das überragende Niveau des kleinen Ensembles und verweist nachdrücklich auf die bemerkenswerten Talente der für die künstlerische Leitung verantwortlichen Nancy Meckler. Die für ihre Ensembleleistung ausgezeichnete, auch im Ausland bekannte alte Freehold-Truppe hatte sich im vergangenen Sommer aufgelöst, weil die Schauspieler einen Grad der technischen Perfektion erreicht hatten, der eine künstlerisch produktive Weiterentwicklung in Frage stellte. Nancy Meckler hatte daraufhin eine neue Truppe versammelt, mit der sie unter anderem Namen ihre szenischen Vorstellungen realisieren wollte. Am Ende der Probenzeit für die erste Inszenierung der neuen Gruppe entschloß sie sich, den zum Qualitätsbegriff gewordenen Namen ‘Freehold Company’ beizubehalten, weil das Ensemble inzwischen zu einer neuen Einheit zusammengewachsen war und die Arbeit im alten Geist fortsetzen konnte.

‘Genesis’ ist die erste öffentlich vorgestellte Inszenierung der Freehold Company nach dieser personellen Veränderung. Aus der biblischen Geschichte vom Anfang der Welt werden drei bezeichnende Phasen herausgegriffen und szenisch anschaulich gemacht: der paradiesische Zustand mit Adam und Eva bis zur Vertreibung, die Kain-und-Abel-Legende und Noah und die Sintflut. In die animalisch-naive Harmonie des Paradieses gerät das erste Menschenpaar; man entdeckt sich, vergleicht einander, findet Unterschiede, sucht nach Ausdruck, der die Empfindungen artikuliert. Aus den ersten Worten ”Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch”, “ich und du” entwickelt sich ein komischer Streit, der mit Evas Belehrung über die Grenzen von mein und dein endet, der Grenzen von Willkür zu tun, was beliebt: das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen.

Die Darsteller des Vogelvolks formieren sich zum polypenartigen Turm aus Körpern, der für Baum und Schlange steht. Der vielstimmige Chor, der Adams Worte quäkend nachspricht, wird zur Stimme des unsichtbaren Schöpfers, der als Idee und Abblid aus menschlichem Geist seine freiheitsbegrenzenden Gebote setzt. Nach dem Spruch der Vertreibung senkt sich Dunkelheit über die Szene.

Der zweite Teil beginnt mit der Gegenüberstellung von vier Figuren, die verlegen vor einander stehen, bis sie sich in ihre verschiedenen Rollen eingeübt haben: Vater, Mutter, zwei Söhne. Man sieht Abel mit seinen Tieren, Kain als Ackerbauer, dem die Ernte mißrät. Die Eltern reden von Strafe für unerkannt sündhaftes Verhalten, entwickeln den Komplex der Minderwertigkeit und Schuld, der zum Brudermord führt. Die Geschlechterfolge der Nachkommen Kains , dargestellt als girlandenhaft verwobenes Ringelreihen, endet bei Noah. In einem riesigen Monolog, der ihm zum sensationell klingenden, gigantischen Epos gerät, beschreibt er die große Flut, die die verkommene Menschheit ersäuft; die Strapazen der langen Reise; den Gestank der Ställe; bis hin zu dem (nach solchen Erfahrungen allzu verständlichen) Stoßseufzer: Ich hasse Tiere! Worauf das Ensemble, gleichsam als versöhnliche Geste, zum großen Dankeschor für die ‘Tiere im Zoo’ sich vereinigt. Der ironische Ton des Lieds schlägt um in Feierlichkeit, schwillt an zu mehrstimmigen Chorälen: lithurgische Formen entwickeln sich, Moral setzende neue Regeln des Zusammenlebens, die sich auf den simplen Gegensatz zwischen Falsch und Richtig reduzieren, Zweifel stiften und in babylonische Sprachverwirrung, schließlich in Sprachlosigkeit enden, der Unmöglichkeit zur Verständigung.

Das Stück, das mit der Beschreibung paradiesischer Harmonie begann, endet im Tohuwabohu kapophonischer Laute, der totalen Disharmonie, die auf eine neue Schöpfung, einen neuen Anfang warten muß.

Roy Kift schrieb den Text des Stückes, die Partitur zu Nancy Mecklers Inszenierung, die – wie frühere Produktionen der Freehold Company – wieder vor allem durch bewundernswerte körperliche Disziplin und virtuose Technik lautmusikalischer Gestaltung gefällt.

 

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