Die Bühnengesellschaft des Royal Court Theatre und des dazu gehörenden Theatre Upstairs zählt zu den wenigen privilegierten Theaterunternehmen Londons, die in größerem Umfang staatlich subventioniert werden. Neben den Millionenbeträgen, die alljährlich der Oper, dem Nationaltheater und der Royal Shakespeare Company zufließen, nehmen sich die 750.000 DM des Royal Court Theaters freilich bescheiden aus. Immerhin geben sie ihm die Möglichkeit, seiner Aufgabe gerecht zu werden, die Stücke junger, noch mehr oder weniger unbekannter Autoren aufzuführen, im Studioraum des Theatre Upstairs beliebig zu experimentieren oder andere Gruppen der heutigen Avantgarde zu Gastspielen einzuladen.
Als Ereignis, das besondere Beachtung verdient, veranstaltet das Royal Court Theatre vom 21. Oktober bis zum 9. November ein Festival der Experimentiertheater. Unter dem Titel “Come Together“ treffen sich in diesen drei Wochen zwanzig englische Spielgruppen, eine repräsentative Schau der theatralischen Vorhut des Landes.
Die wichtigsten Anregungen für die englischen Experimentierbühnen kommen aus den USA, wo sich unter gesellschaftspolitisch brisanten Verhältnissen in den letzten Jahren bemerkenswerte Ansätze gezeigt haben einer gegen Establishment, militanten Kapitalismus, Rassendiskriminierung und einer auf Massenverdummung abgestellten Vergnügungsindustrie protestierenden Anti-Theater-Bewegung. Das bekannteste Unternehmen dieser Art war das Living Theatre, das nach Europa emigrierte und durch seinen auf Artauds Begriff vom Theater der Grausamkeit und einer Mischung aus Yoga, Zen, Psychoanalyse und wissenschaftlichen Erfahrungen fußenden Darstellungsstil einerseits Verwirrung stiftete, andererseits aber dem Theater wichtige neue Impulse gab. Ihm folgten das Open Theater, das La-Mama-Theater und eine ganze Reihe anderer so genannter Off-Off-Broadway-Truppen.
Von Mitgliedern der zur New Yorker La-Mama-Gruppe wurde 1968 in London die Wherehouse/La-Mama-Company gegründet, von der sich noch im gleichen Jahr das Freehold abspaltete, heute zweifellos eines der besten Ensembles dieser Richtung. Von den vier ersten Beiträgen des soeben angelaufenen Festivals kann denn auch nur der des Freehold, seine preisgekrönte Antigone-Version, als wirklich bedeutsam gelten; interessanterweise also der Beitrag jener Gruppe, die am meisten Theater im traditionellen Sinne bietet.
Die People Show, die am gleichen Abend auftrat, besteht aus vier Personen, die im Zusammenspiel mit dem Publikum, aber ohne zwingenden Zusammenhalt untereinander, sich selbst und ihre subjektiven Fantasien, Wunschvorstellungen und Ängste improvisierend darstellen. Was dabei entsteht, hat mit Theater im alten Sinn wenig zu tun, dagegen einiges mit den Versuchen der Pop- und Op-Art im Bereich der Bildenden Kunst. Man erkennt bestenfalls Elemente vom Theater des Absurden, hat es aber im übrigen mit einem mehr oder weniger unterhaltsamen, mit allerhand Primitivsymbolen gewürzten Happening zu tun, bei welchem das Publikum mitspielen soll.
Das Cartoon Archetypical Slogan Theatre, kurz C.A.S.T. genannt, versucht eine neue Form des Agitprop mit den alten Mitteln der englischen Music-Hall- und Slapstick-Comic, der Clownerie, der Hanswurstiade und des Kabaretts. Im Mittelpunkt des Spiels steht jedesmal die komische Figur eines gewissen Herrn Muggins, Archetyp des Bourgeois, wie er in vielen boshaften Karikaturen der satirischen Zeitschrift ‘Punch’ dargestellt wurde, eine harmloser wirkende, aber kaum weniger gefährliche englische Variante des ‘König Ubu’. C.A.S.T. möchte nicht zum ‘englischen Theater’ gerechnet werden und spielt darum normalerweise nur in Gasthäusern, in Universitäten, bei politischen Demonstrationen, auf Straßen und Plätzen.
Auch die Ken Campbell Roadshow präsentiert sich vor allem im Gasthäusern, Clubs und bei größeren Versammlungen. Sie bietet kabarettistisch ausgespielte Anekdoten und Witze, “unwahrscheinliche” Erlebnisberichte, Drei-Minuten-Sketche, Moritatengesänge und Drag-Act-Einlagen. Sie versteht sich als Pop-Drama Group, will vor allem die Leute belustigen und fällt darum etwas aus dem flexiblen Rahmen des Festivals.
Die Antigone-Fassung der Freehold-Gruppe bringt dagegen eine bis ins letzte Detail ausgeformte, hinreißend disziplinierte Inszenierung, die durch tänzerische Leichtigkeit der Darsteller, Fantasie und Ausdruckskraft besticht. Im Gegensatz zum Gros der heute bekannten szenischen Versuche wird hier nicht nur eine Anti-Haltung demonstriert und ein wesentlich negativer Protest formuliert, sondern eine Alternative geboten, die die wichtigsten Elemente des traditionellen Theaters nicht einfach ignoriert, sondern in sich aufgehoben und produktiv weiter entwickelt hat. Gerade am Beispiel dieser neuen Antigone-Version und dem nahe liegenden Vergleich mit dem Brecht/Neherschen ‘Antigonemodell’ und der ‘Antigone’ des Living Theater läßt sich zeigen, daß hier die beiden einflußreichsten Komponenten der modernen Bühne – Artauds Theater der Grausamkeit und Brechts dialektisches Theater – eine eindrucksvolle Synthese gefunden haben. Die Grausamkeit der Inhalte wird mit raffinierten gestischen und stimmlichen Mitteln brutal übersteigert, aber zugleich formalisiert und mit großer Leichtigkeit und ironischer Distanz dem Publikum dargestellt. Ein erstaunliches Resultat.