die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 180
Autor Daniel Mornin
Theater
Titel Kate
Ensemble/Spielort Bush Theatre/London
Inszenierung/Regie John Dove
Uraufführung
Sendeinfo 1983.0312/SWF Kultur aktuell/RB/DLF 1983.03.14/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Augenblicke wie dieser sind selten und darum kostbar: Die Begegnung mit dem ersten abendfüllenden Stück eines jungen Autors, der mit einfachsten Mitteln so durchdringend starke, unmittelbar erschütternde Wirkungen schafft, daß man Mühe hat, die eigene Betroffenheit und das Geheimnis eines so verblüffenden dramaturgischen Rezepts zu fassen.

Daniel Mornins Vierpersonenstück ‘Kate’ spielt in Belfast, dem Geburtsort des Autors, Zentrum des nordirischen Bürgerkriegs. Sam und Helen haben nach 16-jähriger Ehe den Punkt erreicht, an dem die Familie auseinanderzubrechen droht. Sam, Fahrer von Beruf, hat wegen Trunkenheit seinen Führerschein verloren und ist seither arbeitslos. Seine Frau Helen scheint den äußeren und inneren Spannungen nicht länger gewachsen zu sein, dem wahnsinnigen Kreislauf von Mord und Vergeltung im erbitterten Kampf zwischen Protestanten und Katholiken, dem Versagen des seelisch labilen Ehemannes, der das Geld der Familie vertrinkt, um die eigene Not zu vergessen. Kate, ihre Tochter, hat mit sechzehn Jahren vorzeitig die Schule verlassen und hofft nach erfolgreichem Abschluß eines Sekretärinnenkursus eine Anstellung zu finden. Sie sehnt sich nach der Nestwärme geordneter Familienverhältnisse; ihren 15-jährigen Bruder treibt es dagegen hinaus auf die Straße.

Die Banalität der trostlosen Umstände wird transparent. Sam gehört zur protestantischen Mehrheit, doch durch seine Ehe mit einer aus Schottland stammenden Katholikin ist er ein Sonderfall. Sein Sohn trägt einen Revolver bei sich und nimmt an Racheakten gegen mutmaßliche Anhänger der IRA teil. Ein Zusammenbruch der Mutter, die zunächst ins Krankenhaus eingeliefert, dann zu einem langen Genesungsurlaub verschickt werden muß; eine inzestuöse Begegnung zwischen Vater und Tochter, die beide mit großen Schuldgefühlen belastet; die Heimkehr der Mutter und endlich die Vorbereitungen zur Auflösung des Haushalts und zur Übersiedlung der Familie nach Schottland; Kates verzehrende Angst um Vater und Bruder, die in Belfast zurückbleiben, doch nachfolgen sollen, sobald der Vater den Sohn gefunden und wieder nach Hause zurückgeholt hat – das sind die Stationen einer Familiengeschichte, die durch überwältigende Schlichtheit und Glaubwürdigkeit der Darstellung zum Sinnbild der Leidensgeschichte Nordirlands wird.

Die wunderbar stille, aus leisen Tönen und behutsamen Gesten gebaute Inszenierung von John Dove zeigt uns Menschen, deren seelische Not als verinnerlichte Gestalt einer fast hoffnungslos zerrissenen Gesellschaft erscheint. Im Gegensatz zum viel beachteten, bewunderten, lauten, artistisch-spektakulären Theater mit seinen großen, verblüffenden Effekten, mirakulösen szenischen Verwandlungen, schrillen dramatischen Höhepunkten, seinen exaltierten Interpretationsversuchen wird hier in einer selten schönen Aufführung die Stille beredt.

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