die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1981
Text # 168
Autor James Saunders
Theater
Titel Fall
Ensemble/Spielort Orange Tree Theatre/London
Inszenierung/Regie Sam Walters
Uraufführung
Sendeinfo 981.11.15/ORF Wien 1981.11.16/SWF Kultur aktuell/RB/SR/SRG Basel 1981.11.17/DLF 1981.11.19/WDR (Kurzfassung)

Durch die Stücke ‘Ein Eremit wird entdeckt’ und ‘Ein Duft von Blumen’ wurde der Londoner Autor James Saunders in den sechziger Jahren zu dem auf deutschen Bühnen meist gespielten Dramatiker der englischen Sprache. Als Saunders vor viereinhalb Jahren im Orange Tree Theatre, einem kleinen Gasthaustheater, dem er sich besonders verbunden fühlt, sein letztes Stück ‘Bodies’ herausbrachte, ging das Ereignis zunächst fast kommentarlos unter. Nur eine einzige Londoner Tageszeitung berichtete – verspätet – über die Premiere. Saunders war in seinem Heimatland noch immer fast unbekannt, als im Februar 1978 das Hampstead Theatre eine Neuinszenierung des Werkes versuchte, die überraschenderweise so gut ankam, daß ‘Bodies’ für anderthalb Jahre ins Londoner Westend übersiedelte. Aufführungen in Amerika, Skandinavien, Australien, Belgien und an deutschsprachigen Bühnen trugen dazu bei, daß ‘Bodies’ zum bisher erfolgreichsten Theaterstück des Autors wurde.

Das Orange Tree Theatre hat soeben ein neues Stück von Saunders zur Uraufführung gebracht. Es trägt den Titel ‘Fall’ (Herbst) und gibt den Eindruck, als stehe dem heute 56-jährigen James Saunders noch weitaus Größeres bevor. ‘Fall’ ist wohl das beste Stück, das Saunders je geschrieben hat. Ein Stück verdichtete Wirklichkeit, wenn je der zur Phrase heruntergekommene Ausdruck zutraf. Ein Stück, randvoll von realer Erfahrung, die es auf täuschend einfache, unprätentiöse Weise mitteilt. Ich kenne kein anderes Werk eines männlichen Autors, das weibliche Charaktere mit so tiefem Verständnis für die Erfahrung eines beschädigten Lebens dargestellt und mit Sympathie, doch ohne Sentimentalität über deren Ursachen nachgedacht hätte.

Die Not der begrenzten Verhältnisse des kleinen Theaters – eine zwölf Quadratmeter große Fläche in der Mitte des Raumes – wird zur Tugend der Konzentration aufs Thema. Auf einem Grasteppich ein Tisch mit ein paar Stühlen; auf dem Tisch Wein und ein paar Gläser; später ein Tablett mit Teekanne und Tassen – das ist alles, was man als szenische Hilfsmittel braucht. Die meisten der achtzig Zuschauer, die der Raum faßt, sitzen auf schmalen Kirchenbänken, die man in Zweier- und Dreierreihen um die Spielfläche herum aufgestellt hat. Man erreicht das Theater über einen Seiteneingang des Wirtshauses mit dem poetischen Namen ‘Zum Orangenbaum’. Eine enge Stiege führt hinauf in den ersten Stock. Sie ist so schmal, daß sich die Zuschauer einzeln hinauf- und hinunterbewegen müssen. Der offenbar kaum beheizte Raum erwärmt sich rasch, sobald die Zuschauer Platz genommen haben.

Ein Mann, der wie zufällig am Rande der Szene gestanden hatte, beginnt zu sprechen: “Sonntag, spät am Nachmittag, im Spätherbst“. Er variiert die Reihenfolge der Worte, spielt mit ihnen; spricht von drei Schwestern im Alter von 18, 26 und 30 Jahren, die nach längerer Trennung sich wieder einmal im Haus der Mutter eingefunden haben. Die Jüngste lebt in einer Kommune; sie ist hochschwanger. Die zweite kommt aus Hamburg; sie hat sich den ostasiatischen Leib-Seelen-Kulten Yoga und Zen und ihren westlichen Derivaten TM, Gestalt und Encounter verschrieben. Die älteste Schwester ist eine desillusionierte Psychotherapeutin, die im Konflikt zwischen der Marxschen Philosophie der Hoffnung auf Befreiung des Menschen und der Freudschen Fixierung auf seine Bedingtheit vor der eigenen Ohnmacht, das Elend der Welt zu wenden, in ratloser Resignation zu versinken droht.

Ann, die Jüngste, die ihren dicken Bauch unter der Latzhose wie eine bewußte Provokation vor sich herträgt und jeden Versuch der Kritik an ihrer Lebensweise schlagfertig kontert, versucht nach der Devise ‘Schlimmer kann es nicht kommen’ positiv zu denken. Doch die Pose der emanzipierten Frau, die ein glückliches Leben lebt, weil sie nicht ans Morgen denkt, wirkt zu angestrengt, um wirklich zu überzeugen. Ihre Schwester Kate gibt zu erkennen, daß die Faszination der Verinnerlichungsrituale zur Selbstwerdung nachzulassen begonnen hat. Wie zuvor Ann, fängt Helen, die Älteste, irgendwann haltlos zu weinen an und gesteht, daß sie trotz aller Beteuerungen des Gegenteils über die Trennung von ihrem Mann nie hinweg gekommen sei.

Irgendwann im Verlauf des Stückes erfahren wir, daß es außer der Mutter auch einen Vater gibt, der sich von der Familie abgesetzt hatte, doch zurückkehrte, als die Gefahr bestand, daß auch seine Frau sich einen Liebhaber zulegen werde. Daß es dann doch dazu kam, wird er nicht mehr erfahren. Obwohl – außer in der langen Beichte der Mutter – kaum je vom Vater gesprochen wird, scheint seine Gegenwart wie ein dunkler Schatten auf ihrem Leben gelegen zu haben. Und als wenn dies die Töchter veranlaßt hätte, das Haus zu verlassen und draußen ein Glück zu suchen, das sie nicht fanden, gibt nun, da es mit dem Vater zuende geht, eine nach der anderen zu verstehen, daß sie für einige Zeit nach Hause zurückkehren möchte.

Der männliche Erzähler bleibt über lange Strecken hin nur schweigsamer Zuhörer der Gespräche, der, wenn eine der Frauen plötzlich zu weinen beginnt, hilflos besorgt, als wolle er tröstend eingreifen, auf sie zugeht oder abrupt mit kühnem Gedankensprung scheinbar das Thema wechselt, um etwa vom Spargel zu sprechen, den der Vater im Garten pflanzte und der nun, ein Jahr vor seiner ersten Ernte, vermutlich verwildern wird.

Man ruft die Mutter ins Haus, der Alte stirbt, das Laub fällt von den Bäumen, die Sonne versinkt, wenn auch nur zum Schein. Die Töchter hegen große Hoffnungen für die Zukunft der ‘befreiten’ Mutter. Ann spricht von ihren Flugträumen und vom Glück der Bejahung eigener Verwundbarkeit. Und doch wünscht sie sich einen Sohn: sie will einen Mann gebären.

“Mir geht es um Formen, um die Umrisse des Entstehenden“, hat Saunders einmal gesagt. ‘Fall’ ist das vollkommene Beispiel einer sich entwickelnden Form, eines Stückes, dessen Thema, in immer wieder neuen Ansätzen variiert, wie von selbst Form zu werden scheint von Gedanken, die allen Ernstes, doch ohne Pathos, mit Witz, Humor und lächelnder Ironie nach dem Sinn des Lebens fragen, ohne an seiner Wahrheit zu verzweifeln.

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