‘Die Sieben Todsünden der Kleinbürger’, Ballett mit Gesang von Bertolt Brecht und Kurt Weill, entstand im Jahre 1933, kurz nach der Flucht der Autoren vor dem deutschen Faschismus, als Auftragswerk für das von Balanchine, Kochno und Derain gegründete Ballettensemble in Paris. Edward James, ein englischer Millionär, der gerade eine Versöhnung mit seiner Ehefrau, der Wiener Sängerin und Tänzerin Tilly Losch, suchte, sah in der Subventionierung des jungen Ensembles ‘Les Ballets’ die willkommene Möglichkeit, auch der eigenen Sache zu dienen. Mit Tilly Losch und Lotte Lenya, der Frau des Komponisten, als Darsteller der Rollen Anna I und Anna II, wurden die ‘Todsünden’ unter der choreografischen Leitung von Balanchine uraufgeführt und noch im selben Jahr unter dem neuen Titel ‘Anna Anna’ ins Londoner Savoy Theatre übernommen.
Das Stück ist ein dramatischer Zwitter, halb Ballett, halb Oper. In sieben Szenen beschreibt es sieben Tugenden, die dem auf kapitalistischen Erwerb ausgerichteten Kleinbürger als Todsünden erscheinen, weil moralische Bedenken die Karriere behindern: Die Scheu vor dem Begehen von Unrecht wird als Faulheit getadelt; nicht verkäuflich zu sein, Bewahrung der eigenen Integrität, gilt als falscher Stolz; Unmut über menschliche Gemeinheit als Zorn; der Wunsch, sich satt zu essen, als Völlerei; selbstlose Liebe als Unzucht; Unbekümmertheit bei der Vermehrung des Wohlstands bringt in den Verdacht der Habsucht; die Sehnsucht nach persönlichem Glück wird als Form von Neid verstanden.
Das Ballett zeigt sieben Stationen auf dem Weg eines jungen Mädchens aus den amerikanischen Südstaaten, das ihre Familie verläßt, um als Tänzerin und Sängerin in den Bars der großen Städte aufzutreten, damit ihre Lieben daheim sich ein Haus kaufen und in mäßigem Wohlstand leben können. Zwei Seelen wohnen in Annas Brust, die im Stück als zwei Personen erscheinen, Anna I und Anna II. “Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch”, erklärt Anna I in der Einleitung. “Meine Schwester ist ein bißchen verrückt, ich bin bei Verstand ... Wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft, ein Herz und ein Sparkassenbuch, und jede macht nur, was für die andere gut ist. Nicht wahr, Anna?” – “Ja, Anna”, kommt die stereotype Antwort.
Anna I ist das kalkulierende Alterego der spontan und unbekümmert in den Tag hinein lebenden Anna II, die, um erfolgreich zu sein, angewiesen ist auf ihre ‘vernünftige’ Schwester wie Shen Te im ‘Guten Menschen von Sezuan’ auf ihren strengen Vetter Shui Ta. ‘Die sieben Todsünden der Kleinbürger’ ist ein Moralitätenspiel, bei dem Tugenden durch ironische Umkehrung zu Sünden werden, Sünden gegen das kapitalistische Prinzip des skrupellosen Erwerbs. Annas Familie steht für die Gesellschaft, die eine bestimmte Haltung und entsprechende Resultate erwartet, im Stück repräsentiert von einem Männerquartett, worin die Baßstimme die Rolle der Mutter übernimmt.
In der neuen Londoner Inszenierung gleitet die Familie auf einem Bühnenwagen auf die Szene und wird nach den chorischen Kommentaren wieder in den Hintergrund gerollt. Die Komik dieser Szenen, vor allem in den auch musikalisch besonders eindrucksvollen Momenten, wenn die Familie zum Gebet in die Knie sinkt oder beim schwelgerischen Mahl zur Enthaltsamkeit mahnt, wird mit großem ironischen Vergnügen ausgespielt.
Julie Covington, als Schallplatten-Evita zu Weltruhm gelangt, spielt die singende Anna I, Siobhan Davies, Solotänzerin und Choreographin des London Contemporary Dance Theatre, ihre tanzende Schwester; eine Starbesetzung, die in der Choreographie von Richard Alston unter der musikalischen Leitung von Lionel Friend das Stück in bestem Licht erscheinen läßt, wobei es vor allem Julie Covington und dem vorzüglichen Männerquartett zu danken ist, daß – im Unterschied zu früheren Aufführungen – der Schwerpunkt hier eindeutig bei den Gesangspartien liegt.
“Julie Covington hat ihren eigenen Weill-Stil gefunden”, lobte der Kritiker der ‘Times’ nach der Premiere. “Sie singt reiner und klarer, als ich sie je gehört habe; ihre Vortragskunst ist erstklassig und meilenweit entfernt von Lotte Lenja oder Cleo Laine, doch, wie ich glaube, näher an Kurt Weill und am Charakter der bösen Göttin Anna I”.