Mitunter hört man sagen, was dem Theater weitgehend fehle und was es brauche, sei der Spielsinn der Kinder, ihre schier unbegrenzte Imagination, die Begabung, mit Puppen und ein paar Fetzen Stoff ein allen Beteiligten einleuchtendes, unmittelbar verständliches Stück gespieltes Leben vorzustellen. “Theater sollte so elementar sein wie unser täglich Brot“ ist das Motto der amerikanischen Truppe ‘Bread and Puppet’, die nach Jahren wieder einmal in London gastiert. Die Faszination dieses in seinen Mitteln erschütternd armen, im Ausdruck unschätzbar reichen poetischen Theaters ist so groß, daß man den Aufwand, den die meisten unserer Bühnen glauben treiben zu müssen, um halbwegs akzeptable künstlerische Ergebnisse liefern zu können, geradezu als obszön empfindet.
‘Bread and Puppet’ zeigt ein neues Stück nach dem Märchen der Brüder Grimm ‘Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen’. Es geht um die Geschichte eines unerschrockenen jungen Mannes, der seine Eltern verläßt, um in die Welt zu ziehen, allerhand Abenteuer besteht und die Furcht vor der alles vernichtenden Katastrophe nicht lernt, bevor es zu spät ist.
Die Darsteller arbeiten mit großen, roh gezimmerten, einfach kostümierten Puppen oder agieren selbst in Masken mit puppenhaftem Gebaren, mitunter riesengroß auf Stelzen, grotesk und bedrohlich als böse Albtraummonster oder begütigend wie die hohe weiße, weibliche Gestalt des glöckchenbehängten sanften Schlafs. Primitive selbstgebastelte Streich-, Zupf-, Blas- und Schlaginstrumente setzen fremdartig klingende, je nach Stimmung der szenischen Ereignisse heitere oder traurige, lyrisch melodiöse oder dramatische musikalische Akzente.
Die kleine Figur des furchtlosen jungen Mannes begegnet auf den Stationen seiner Reise drei sorgenvollen Kaffeetrinkern; einem Gelehrten, der die Stücke der zerbrochenen Welt wieder zusammenzufügen versucht; einem Ehepaar mit einem Familienbaum als Hauspflanze und “unglaublich vielen Verwandten“, die seit Generationen “mit denselben Töpfen und Pfannen, denselben Gefühlen leben“; einem Lastwagenfahrer, der seinen Blumengarten hegt; Flüchtlingen, die im Nachbarland keine Aufnahme fanden und heimatlos zwischen den Grenzen umherirren.
Dem naiv fröhlichen Wanderer vergeht die Illusion, daß die Welt gut sei. Er erfährt, daß die Friedliebenden leiden, anonyme Verwalter der Macht jedermann ihren Willen oktroyieren und Glück und Frieden der Menschen zerstören. “Brauchen wir einen Vogel in einem Obstgarten, der immerfort twiddeltwiddeldi singt?”, fragen die Demagogen das Volk. “Wer hat uns Vögel gebaut, die hundert Meilen in der Minute durcheilen? Vögel, die unsere Zivilisation beschützen vor den dunkleren Seiten unserer Zivilisation? Und die singen nicht twiddeltwiddeldi!”
Das moritatenhafte Vorspiel, mit dem die Zuschauer im Foyer begrüßt worden waren, endete mit den Worten: “Atomkraft droht, dich zu verteidigen!“. In der letzten Szene des Stückes wird ein großes schwarzes Bündel, das wie ein Damoklesschwert hoch über der Bühne hing, enthüllt und aus dem Mund eines riesigen silbernen Kopfes fällt ein Spruchband zu Boden, auf dem geschrieben steht: “This is it”. Dann ein Paukenschlag, der alle erstarren läßt. Der von riesigen Ohren gesungene Choral “Wer Ohren hat, der höre“ erinnert an die Moral von der Geschicht.
‘Bread and Puppet’ spricht in einprägsamen, kindhaften Symbolen von einer grausamen, zerstörerischen Welt, in der sich die Menschen nach Frieden sehnen, der real möglich wäre, wenn wir ihn haben wollten. Wozu wir die Furcht vor denen zu lernen hätten, die uns für die nächsten Kriege rüsten lassen.