die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1979
Text # 146
Autor Peter Whelan
Theater
Titel Captain Swing
Ensemble/Spielort Warehouse Theatre/Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Bill Alexander
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1979.11.08/SWF Kultur aktuell/RB/WDR/SRG Basel 1979.11.09/ORF Wien

“Die sogennnte Swing-Rebellion zeigt uns eine Form von Menschlichkeit, die sich auf bewundernswerte Weise die Anwendung von Gewalt versagt, darin unbegrenzt Selbstbeherrschung übt und bis zu dem Punkt der eigenen Niederlage von dem Gefühl der Ordnung durchdrungen ist”, schreibt Peter Whelan zu seinem Stück ‘Captain Swing’, das im vergangenen Jahr im kleinen Haus der Royal Shakespeare Company in Stratford uraufgeführt wurde und nun im Warehouse Theatre, dem Londoner Werkraumtheater der RSC, vorgestellt wird.

Es bezieht sich auf den englischen Bauernaufstand von 1830, der von der Grafschaft Kent ausging und sich in kurzer Zeit über weite Teile Englands ausgebreitet zu haben scheint. Daß einige Tausend Landarbeiter von den Grundbesitzern eine Erhöhung ihrer Hungerlöhne erbeten hatten, die ihnen nicht zugestanden wurde, daß sie daraufhin eine Art Streik beschlossen, Dreschmaschinen zerschlugen und Lagerhäuser in Brand steckten, und daß der Aufstand der Verzweifelten schließlich mit Hilfe des Militärs niedergeschlagen wurde, mag zu den Marginalien der Geschichte gehören, verdient aber unser besonderes Interesse, weil es sich um den exemplarischen Versuch handelt, einen berechtigten Anspruch durchzufechten ohne Anwendung von Gewalt gegen Personen, die als Repräsentanten des mit allen staatlichen Machtmitteln geschützten Systems der Ausbeutung den Zorn des Volkes auf sich zogen.

Peter Whelan, dem Autor, geht es denn auch, wie er mitteilt, nicht so sehr um dokumentarische Aufarbeitung der Ereignisse des Jahres 1830, als um die Gelegenheit, an einem historischen Beispiel die aktuellen Themen Reform oder Revolution, Gewaltanwendung, Terrorismus und Law-and-Order zu erörtern.

Das Stück spielt in einem Dorf in Sussex. Als Hauptrollen erscheinen der Wagenbauer Matthew, eine wegen verschiedener Delikte vorbestrafte revolutionäre Dirne, ein im Geist der Französischen Revolution und ihrer blutigen Folgen geschulter Intellektueller sowie das Proletariat der ausgehungerten Landarbeiter. Unsichtbar im Hintergrund bleibt die Gestalt des mysteriösen Hauptmannes Swing, der, wie man hört, sich in Kent an die Spitze der verzweifelten Bauern stellte und in zahlreichen Briefen an die Grundbesitzer die Not der Arbeiter beschrieb und ultimativ um Lohnerhöhungen bat mit der Drohung, man werde die Dreschmaschinen zerschlagen, die so vielen die Arbeit genommen und damit das Elend der Armen noch vergrößert hätten; eine Drohung, die oft genug wahrgemacht wurde, wenn die Grundbesitzer, meistens reiche Lords oder deren Verwalter, zu keinerlei Zugeständnissen bereit waren.

Matthew, der Stellmacher, besteht auf strikt demokratischen Regeln: es soll keinen Anführer geben, der einfach Befehle erteilen kann; “wir sind eine Gemeinschaft und entscheiden gemeinsam über alle wichtigen Fragen“, erklärt er. Gegen den Kampfruf “Brot oder Blut“, den die radikalen Verfechter einer landesweiten sozialen Revolution im Munde führen, setzt er die Parole: “Wir wollen Brot, ja, aber wir wollen kein Blut. Wir wollen keine Revolution. Wir werden das Elend des Volkes dem König zu Gehör bringen, und er wird Änderung schaffen. Vor dem Volk braucht man sich nicht zu fürchten; es will keine Gewalt, keinen Terror, keine Anarchie; es will die Ordnung bewahren. Wir werden keinem Menschen etwas zuleide tun“.

Das Bemerkenswerte an den turbulenten Ereignissen von 1830 ist, daß die Rebellen sich bis zum blutigen Ende des Aufstandes an diese pazifistischen Grundsätze hielten und der repressiven Gewalt, die nach Aussagen eines königlichen Offiziers damals einem echten Ansturm kaum hätte standhalten können, sich kampflos ergaben. Der Aufstand endet mit der Verhaftung von Tausenden, neunzehn Personen werden hingerichtet, über fünfhundert deportiert und über sechshundert in die Gefängnisse geworfen; die hungernden Familien überläßt man ihrem Schicksal.

Whelans spannend geschriebenes Szenario zeigt die Konfrontation zwischen idealistischen Reformbestrebungen und einer revolutionären Ideologie, deren Anhänger auch zum Kampf gegen Menschen entschlossen sind, die als kompromißlose Repräsentanten der Herrschenden den Weg zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung verstellen. Es zeigt, wie der von der christlichen Idee der Mitmenschlichkeit durchdrungene Pazifist tragisch scheitert. Und wenn auch der Autor selbst der Versuchung widersteht, aus dem Hergang der Ereignisse zeitgemäße Schlüsse zu ziehen, bleibt es dem Publikum überlassen, dies zu tun. Was sich unmißverständlich mitteilt, ist die Überzeugung, das jede Form von Gewalt, von wem sie auch ausgehen mag, grundsätzlich vom Übel ist. Wie weit es in der gesellschaftlichen Praxis zuweilen nötig ist, dass Übel auf sich zu nehmen, um größere Übel zu beseitigen, bleibt freilich dahingestellt.

Bill Alexanders vorzügliche Inszenierung präsentiert den Konflikt mit bemerkenswerter Ausgewogenheit, ohne Polemik oder agitatorische Tendenz. Der Sachverhalt spricht für sich selbst. Es geht um die Darstellung eines Konflikts, der theoretisch unauflösbar ist, woran auch politische Praxis nichts ändern kann.

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