Der Dichter Coleridge schreibt über den Schauspieler Edmund Kean: “Ihn spielen sehen, heißt Shakespeare beim Schein von Blitzen lesen“. Goethe und Byron verehren ihn als größten Tragöden ihrer Zeit. Heinrich Heine, der Kean als Richard III sah, ist überwältigt von der “unbegrenzten, unergründlichen, unbewußten, teuflisch göttlichen Macht, welche wir das Dämonische nennen”. Alexandre Dumas macht Kean zum Helden eines Dramas, das wiederum Jean-Paul Sartre als Vorlage dient für seine existenzialistische Salonkomödie ‘Kean’. Nun also ein neues Theaterstück mit dem Titel ‘Edmund Kean’, das Raymund FitzSimons für Ben Kingsley schrieb, den vielgerühmten Gandhi-Darsteller, der vom Rang eines geachteten Schauspielers für mittlere und größere Rollen der Royal Shakespeare Company und des Nationaltheaters ebenso plötzlich, von heute auf morgen zum Weltstar avancierte, wie seinerzeit Edmund Kean, der vor rund 70 Jahren zum ersten Mal auf einer Londoner Bühne stand und wenig später als “größter Schauspieler seit David Garrick” in aller Munde war.
Von der Existenz dieses fast zweistündigen Monodramas, das Kingsley, wie man erfährt, schon vor zwei Jahren auf einer winzigen Studiobühne in Nordengland herausbrachte, schien bis vor kurzem noch keiner zu wissen. Inzwischen wurde eine Fernsehfassung des Stückes hergestellt, und Kingsley, dem noch der Beifall der Oscar-Preisverleihung in den Ohren klingen muß, darf sich von seinen zahllosen Gandhi-Verehrern nun auch als Kean bewundern lassen.
Für einen so vielseitig begabten, ehrgeizigen Mann wie Kingsley ist die Rolle des romantischen Schauspielergenies natürlich ein Leckerbissen. Parallelen bieten sich an: Wenn Kean sich ans Publikum wendet und im Vollgefühl seines unerhörten Erfolgs beinahe verächtlich erklärt, es habe reichlich lange gedauert, bis man ihm Gelegenheit gab zu zeigen, daß er der Größte sei, reagieren die Zuschauer darauf, als spreche der Schauspieler Kingsley, der erst mit 38 Jahren erreichte, was Kean schon mit 27 gelang, nur von sich selbst. Mit seiner relativ schmächtigen Gestalt, den dunklen, brennenden Augen und dem Flair des romantischen Helden kommt Kingsley auch äußerlich der Vorstellung nahe, die uns von Bildern und Berichten der Zeitgenossen vermittelt wird.
Wenn das Stück beginnt, steht Kean auf dem Höhepunkt seiner Karriere und blickt zurück auf seine Anfänge als Wunderkind des Theaters und die harten Lehr- und Wanderjahre. Er beschreibt die Schwierigkeiten seiner Ehe und sein wild ausschweifendes Leben. Auszüge aus seinen berühmtesten Rollen – zunächst als Harlekin in zahllosen, ihm selbst verhaßten Melodramen, später als Shylock, Richard III, Hamlet, Othello und Jago, Timon und Lear – sollen die ungeheure Spannweite und magische Ausstrahlung des großen Darstellers illustrieren, der im Alter von 44 Jahren, von der sogenannten guten Gesellschaft geschmäht und von seinem Publikum verlacht, durch Krankheit und Alkohol ruiniert, zum letzten Mal auf der Bühne steht und wenige Wochen später stirbt.
Dumas’ Kean leidet an der Diskrepanz zwischen seiner sozialen Stellung und dem eigenen hohen Anspruch. Bei Sartre geht es um den Konflikt zwischen Rollenspiel und Wahrhaftigkeit nach dem Motto ‘Wir alle sind Spieler’: “Man spielt, um zu lügen; um zu sein, was man nicht sein kann; und da man es satt hat zu sein, was man ist”. Fitz-Simons verzichtet auf jede geistige und psychologische Vertiefung und möchte offenbar nur das Vehikel liefern zur Demonstration der schauspielerischen Möglichkeiten. Und obwohl Ben Kingsley fast alles hat, was die Virtuosenrolle verlangt, – unbändige Spielleidenschaft, die Lust an der Verwandlung, Talent, Beherrschung der technischen Mittel, strikte Selbstdisziplin, Intelligenz und Charisma – und er hier einmal alle Register ziehen könnte, wird die Aufführung, für die seine Ehefrau Alison Sutcliffe als Regisseurin verantwortlich zeichnet, leider ganz flach, monoton, ja stellenweise langweilig. Die Inszenierung erscheint ungegegliedert, verhuscht, repetitiv.
Heine schrieb über Kean: “Da gab’s Modulationen in seiner Stimme, die ein ganzes Schreckensleben offenbarten, da gab es Lichter in seinen Augen, die einwärts alle Finsternisse einer Titanenseele beleuchteten, da gab es Plötzlichkeiten in der Bewegung der Hand, des Fußes, des Kopfes, die mehr sagten als ein vielbändiger Kommentar”. Anderswo liest man: “Staccato-Partien wechselten mit langen, kühn ausgehaltenen Pausen“. Kingsley bleibt uns vieles davon schuldig. Die Shakespeare-Passagen heben sich nicht stark genug von der Erzählebene ab; es fehlt an Differenzierung und Modulation, eben überhaupt an der Arbeit des Regisseurs, auf die selbst der beste Darsteller angewiesen ist, wenn er sein Bestes geben soll. Ben Kingsley, den man in England endlich als einen der ersten Schauspieler seiner Generation wahrgenommen hat, zeigt beachtliche Proben seines Talents, doch vergibt die schöne Gelegenheit zu beweisen, daß er den großen Shakespeare-Rollen, aus denen er rezitiert, auch wirklich gewachsen ist.
Wie hoch Kingsley derzeit in England als Schauspieler im Kurs steht, beweist die Tatsache, daß die meisten Londoner Kritiker die offensichtlichen Schwächen der ‘Kean’-Inszenierung nicht wahrzunehmen schienen oder geflissentlich übersahen und das Ereignis als neuen persönlichen Triumph des großen Gandhi-Darstellers verbuchten.