die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 97
Autor William Shakespeare
Theater
Titel Hamlet
Ensemble/Spielort National Theatre/ London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Albert Finney/Susan Fleetwood/Denis Quilley
Neuinszenierung
Sendeinfo 1975.12.11/SWF Kultur aktuell/WDR/ORF Wien 1975.12.12/SFB

Albert Finneys Hamlet in der neuen in Inszenierung von Peter Hall hat wenig Ähnlichkeit mit seinen Vorgängern in der begehrten Rolle des Dänenprinzen. Er ist das Gegenteil eines von des Bewußtseinsblässe angekränkelten Intellektuellen, kein von Zweifeln zerquälter Romantiker, kein melancholischer Jüngling mit Anfällen von Schizophrenie, kein edler Märchenprinz, der sein trauriges Schicksal beklagt. Finneys Hamlet wirkt robust und entschlossen, derb und massiv, er hat das Betragen und die Sprache eines nordenglischen Bauern, eines Mannes, der mit beiden Beinen auf der Erde steht; bärtig, mittlerem Haarschopf unter der Kappe des Gelehrtenin in der ersten Szene am Hof, später mit dreiviertellanger brauner Hose, braunen Schuhen, die weißen Strümpfe lose darüber gerollt, mit offenem togaartigen Mantel, denkbar uneitel, nachlässig gekleidet wie ein Landsknecht im Feld. Ein ungewöhnlicher, moderner Hamlet mit rauher Stimme und schmuckloser Rede, bestimmt im Ausdruck, nüchtern und glaubhaft und ohne effektvoll-nachdenkliche Pausen direkt auf den Wortsinn zugesprochen.

Peter Halls Inszenierung beeindruckt durch Klarheit und Simplizität. Shakespeares ‘Hamlet’ ungekürzt – das hat es in London seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Die fast dekorationslose Aufführung hat Dynamik und Tempo, wirkt betont kühl, unromantisch, schnörkellos sachlich. Hall läßt das Stück auf leichter Schräge spielen, mit weiß aufgemaltem Kreisrund vor hoher grauer Wand mit riesigem Portal, das sich bei Innenraumszenen einfach schließt. Der Geist des toten Königs erscheint ohne jede gespensterhafte Vernebelung in menschlicher Größe rechts oder links vorne im Bühnenrahmen. Nach der Begegnung mit Hamlet sinkt die Figur in den Boden, die Szene verdunkelt sich, grelles Licht dringt aus dem Schlund, der sich erst beim Nahen der anderen schließt.

Denis Quilley in der Doppelrolle als Geist und Mörder des alten Hamlet zeigt Claudius als Politiker von imponierendem Format, der sich durch maßlosen Ehrgeiz zum Mord hinreißen ließ, doch unter anderen Umständen vielleicht ein höchst bemerkenswerter König hätte werden können. Ein ernst zu nehmender Gegner des heißblütigen Hamlet, den der Abscheu vor der verbrecherischen Tat und der unbegreiflichen Untreue der Mutter in rasende Empörung, doch keineswegs in den Wahnsinn treibt und der erst nach der Rückkehr aus England wieder kühl und beherrscht zu handeln weiß, sich mit draufgängerrischem Vergnügen auf Laertes stürzt und schließlich dem falschen König das böse Ende bereitet.

Peter Halls Inszenierung ist auf die Figur seines Hauptdarstellers zugeschnitten, dem er erlaubt, uns einen neuen Hamlet vorzuführen, der fast immer überzeugt. Nur gelegentlich geht das Konzept nicht auf, wie in den Schauspielerszenen, in denen Finneys gestenreiche Demonstration zu der Verhaltenheit, die er den Komödianten abverlangt, in seltsamem Widerspruch steht.

Susan Fleetwoods Ophelia wirkt im ersten Teil kräftig und sehr gesund. Unklar bleibt, warum Hall sie im zweiten Teil mit grauweißem Kittelgewand und kurzgeschorenem Haar auf die Szene schickt, als sei sie soeben einer Irrenanstalt entsprungen. Ihr Wahnsinn erschüttert.

Alles in allem, wegen Albert Finneys kraftvoller Darstellung der Titelfigur, Denis Quilleys imponieremdem König, teilweise hervorragend besetzter Nebenrollen und Peter Halls kühler, spartanischer Regie ein bedeutender, außergewöhnlicher Theaterabend.

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